Hannahs Briefe
Wahnsinn. Es folgten Vergewaltigungen, Besäufnisse und sonstige Verfehlungen, mit denen der Herr Kommissar nicht gerechnet hatte, weil er glaubte, die Zivilisation sei ein stilles Gewässer und kein Meer der Scheinheiligkeit. Artur selbst musste mitten in der Nacht über den Rio de la Plata fliehen, durch die uruguayische Pampa waten und sich schließlich in Montevideo als blinder Passagier nach Europa einschiffen. Es war nicht sein erstes Abenteuer auf See.
Nie würde er vergessen, wie 1914 ein britisches Geschwader ein deutsches Schiff mit acht seiner Mädchen abfing. Man erklärte ihnen, in Europa sei Krieg ausgebrochen, das feindliche Schiff werde in einen schottischen Hafen gebracht und die Passagiere auf einen anderen Überseedampfer umgeladen. Es herrschte allgemeines Entsetzen – bei fast allen zumindest. Während die anderen bestürzt die Hände hoben, rieb sich Artur die seinen. Er kehrte nach Deutschland zurück, trotzte Bomben und Gewehren und versorgte die deutsche Front mit besonders feurigerMunition. Und damals in Südafrika, als die Mädchen von einem Eingeborenenstamm überfallen wurden? Arthur hatte die halbe Welt kennengelernt, von Hongkong bis Havanna. Er hatte Kokain und Opium im Blut gehabt, aber der Prager Absinth war ihm lieber.
Am Ende geriet seine glorreiche Odyssee zu einem Fiasko. Fünfzig Jahre, wer hätte das gedacht! Und außer einem Krug Bier niemand da, der ihm zu seinem Geburtstag Gesellschaft leistete. Wo würde er den nächsten feiern? Seine Kontaktleute rieten ihm, Buenos Aires zu vergessen. Er solle sein Glück lieber in Brasilien versuchen, dort habe ein charismatischer Führer die Macht übernommen.
Artur müsse nur warten, bis sich der Staub gelegt hatte. Alternativen waren Venezuela, Kolumbien, Mexiko und auch Kuba. Aber mit seinen fünfzig Jahren besaß Artur nicht mehr dieselbe Kraft wie früher. Er litt unter Bluthochdruck, Arthritis und anderen Beschwerden. Vielleicht sollte er sich lieber ein ruhiges Plätzchen am Meer suchen. In seiner Trunkenheit stellte er sich vor, wie er in Rio am Strand lag, in der Sonne schmorte und sich von einer Gefährtin verwöhnen ließ. Schluss mit den jungen Dingern und ihren romantischen Vorstellungen. Was er wollte, war eine erwachsene Frau, die ihm in seinem langsamen, unausweichlichen Verfall zur Seite stand. Nach zweihundertsoundsoviel Bräuten – und den jeweiligen Schwiegermüttern, die zum Glück in weiter Ferne weilten – war er jetzt selbst so verletzlich wie einstseine Opfer. Niemandem würde er von seinem Ausflug am Vortag erzählen. Er war in der Nalewki-Straße gewesen, der Hochburg der Warschauer Juden, und dort in eine Synagoge gegangen. Welch wunderbare Anonymität nach Jahrzehnten trauriger Berühmtheit! Vielleicht war das Gefühl, endlich den jüngeren Bruder begraben zu haben, nicht mehr als ein kurzes poetisches Aufflackern.
Artur streckte sich und bat um die Rechnung. Die Uhr zeigte drei Uhr morgens.
Er torkelte um ein paar Tische herum in Richtung Toilette und blieb plötzlich wie vom Donner gerührt stehen. Hinter der Theke stand eine Frau, die er bisher nicht gesehen hatte, sie zählte Geld, notierte Bestellungen und trieb das Personal an. Sie war wunderschön, ungeschminkt, ihr Haar war voll, auf den Lippen trug sie ein freundliches Lächeln und … an der Brust einen Davidstern! Eine Jüdin, war das möglich? Schließlich riss er sich zusammen, ging auf sie zu und fragte, wo die Toiletten seien.
»Erste Tür links«, sagte die Frau auf Polnisch.
Und Artur, möglichst galant: »Jiddisch?«
Sie hielt inne und musterte ihn flüchtig.
»Schalom …«
»Kelevski, Artur Kelevski.«
»Schalom, Herr Artur Kelevski.« Die Frau verschränkte die Arme. »Kelev bedeutet Hund auf Hebräisch.«
»Ach, wirklich?«, sagte er, aufrichtig überrascht. »Das wusste ich nicht.«
Sie lächelte. Wie alt sie wohl war, dreißig? Keine Falte, keine Spur von schlaffer Haut.
Artur fasste sich ein Herz: »Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
Die Frau wandte schüchtern den Blick ab und sortierte das Wechselgeld. Artur kam sich vor wie ein räudiger Straßenköter, der gleich eins mit dem Besen verpasst bekommt. Doch seine Angst war unbegründet – zumindest vorläufig.
Sie seufzte leise und sagte: »Hannah Kutner.«
Kapitel 5
Rio de Janeiro, 1937
Der Laubengang des Copacabana Palace war für die weihnachtliche Cocktailparty geschmückt. Ein grüngelbes Blumenarrangement trieb im Swimmingpool, die Damen trugen
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