Hannahs Briefe
nicht!«
»Was soll das heißen?«
»Verschwinden Sie hier.«
Max wollte sich nicht geschlagen geben.
»Aber …«
»Und zwar schnell!«
Was hätte er tun sollen? Er war sich jetzt beinahe sicher: Es war Hannah. Wo war sie, warum, mit wem und wie lange? Im Laubengang unterhielt Hauptmann Avelar eine beachtliche Runde. Bei wem, um Himmels willen, war Hannah? Max hätte sich fast mit einem betrunkenen Diplomaten angelegt, der anfing,auf ihn einzureden. Er musste das Geheimnis der Frau in Schwarz lüften. Und zwar sofort.
Er lief in Richtung Lobby, rempelte mehrere Hotelgäste an, und traf schließlich auf den Concierge, der ihm riet, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, und ihm eine Nachricht überreichte.
»Für Sie.«
Ein Schauder ergriff Max: Was war das? Er wischte sich übers Gesicht und eilte gedankenverloren auf die Straße. Eine Nachricht? Taumelnd lief er über das wellenförmige Mosaik bis nach Leme und zurück, aber er fand nicht den Mut, den Zettel zu lesen. Wer hatte ihm wohl geschrieben, und warum? Erst auf dem Weg nach Hause in der Straßenbahn faltete er ihn auf und riskierte einen Blick auf die mit Tusche gezeichneten Buchstaben. In einwandfreiem, knappem Jiddisch stand dort: »Ich war es tatsächlich. Seien Sie morgen um vier bei mir. Hundert Mil-Réis.«
* * *
Fany brachte ein Tablett mit Saft.
»Sie kommt gleich.« Dann ging sie zurück in die Küche.
Max nahm die dritte Beruhigungstablette – vielleicht auch die vierte, oder fünfte? Er wusste es nicht mehr. Um sich abzulenken, sah er sich im Zimmer um. Warum hatte Hannah ihn kommen lassen? Was konnte sie von ihm wollen? Sie hatten sich nie richtig unterhalten, wenn er von den bisherigen, eher improvisiertenBegegnungen absah, an die er sich nur ungern erinnerte. Und wenn sie ihn jetzt knapp bekleidet zum Dienst empfing? Nein, dazu war Max nicht in der Lage. Genauer gesagt, er hatte nicht die geringste Idee, weshalb er hier war.
Er griff nach dem Atlas auf dem Tisch neben ihm. Steuerte durch Meere und Flüsse, passierte Berge und Wüsten. Die Ausgabe stammte aus dem Jahr 1912, eine Zeit der unsteten Grenzen, als die Kaiserreiche die Welt unter sich aufteilten und den Ersten Weltkrieg probten. Man ging an einem Ort schlafen und wachte an einem anderen auf, ohne sich aus dem Haus bewegt zu haben. Die Mutter von Berta F. zum Beispiel war in Frankreich geboren, hatte in Deutschland gelebt und war in ihrem Heimatland Frankreich gestorben, alles im selben elsässischen Dorf. Adam S., der Heiratsvermittler, hatte in Kaunas drei verschiedene Flaggen wehen sehen, an einem Tag die russische, am nächsten die litauische und danach die polnische. Viele mussten ins eigene Land fliehen, dessen Grenzen zurückgewichen waren wie das Wasser bei Ebbe; andere blieben, ob aus Trägheit oder Idealismus, und mussten bald feststellen, dass ihr Geld nichts mehr wert war und von nun an Gewehre über ihre Rechte und Pflichten bestimmten. Die Kinder hatten es in der Schule mit anderen Lehrern zu tun und mit neuen Sprachen, Hymnen und Helden. Oder man starb einfach.
Und Brasilien, wie sah es in Brasilien aus? Ein riesiges Land, die längste Atlantikküste der Welt, Nachbarfast aller südamerikanischen Länder, und nirgends ein Krieg in Sicht. Man konnte tagelang reisen, und was erwartete einen am anderen Ende? Dieselbe Sprache, dieselbe Währung, dasselbe Bild von Getúlio Vargas. Unglaublich!
»Sie können jetzt reingehen, Senhor Kutner.« Fany lächelte.
Eine rosa Decke und mehrere Kissen lagen auf dem mit Schnitzereien versehenen Holzbett. Zwischen zwei Ohrensesseln stand ein Tisch, auf den Hannah ein Tablett gestellt hatte.
»Tee?«
Sie trug ein bordeauxfarbenes Negligé, ihr Gesicht war vollkommen rein, ohne die üblichen Puder, mit denen die Frauen sich zuspachtelten und von denen die Männer sich täuschen ließen. Sie hob die Tasse.
»Le Chaim!«
Sie trug eine Schleife im Haar. Nachdem sie sich gesetzt hatte, sagte sie: »Ich weiß nicht, was Sie sich von diesem Treffen erwarten, Max.« Vergeblich wartete sie auf eine Antwort. Dann stellte sie die Tasse auf den Tisch. »Was mich betrifft, ich möchte nur reden. Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel.«
»Gut, dann lassen Sie uns …« Er räusperte sich. »… reden.«
»Schön. Sie sind mir inzwischen einige Male über den Weg gelaufen. Warum?«
Um Zeit zu gewinnen, trank Max einen Schluck Tee.
»Also … na ja, Sie sind in meinen Laden gekommen … und Sie haben mir
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