Hannahs Briefe
raffinierte Kostüme und die Herren Medaillen auf der uniformierten Brust. Kellner servierten Whisky und reichten Nachrichten weiter. Mit Gesten und Worten hielt man sich streng an die Etikette, sie zu brechen stand allein den höheren Offizieren zu. Klaviermusik untermalte die Rituale der Macht, doch Max wollte mit alldem nichts zu tun haben. Er drückte schmierige Hände, heuchelte, wo nötig, Interesse oder Überraschung, aber ein Lächeln rang er sich nicht ab. Man würde ihm den abwesenden Blick und den gleichförmigen Tonfall verzeihen müssen, denn noch schwieriger, als sich von dieser Scheinheiligkeit loszusagen, war es, sie zu ertragen.
Max erfreute sich inzwischen der Gunst des Hofes. Einige Tage zuvor hatte er im Theatro Municipal in der Loge der Polizei einem Konzert beigewohnt und sich im geliehenen Smoking, während man einander zuprostete, Senhora Avelars einfältige Bemerkungenangehört. Der Hauptmann selbst behandelte ihn wie immer, so als habe sich der Vorfall vor ein paar Monaten in Hannahs Wohnung nie ereignet. Er lobte den Dirigenten und die virtuosen Triller des Pianisten, obwohl das Konzert, das die Nation bewegte, weit entfernt in den Salons der Republik stattfand. Unter dem Vorwand, die »rote Gefahr« zu bekämpfen, hatte Getúlio Vargas den Kongress und sämtliche Parteien aufgelöst und den Estado Novo ausgerufen. Über eines waren sich in der Laube des Copacabana Palace alle einig: Die Zukunft Brasiliens war im besten Fall ungewiss.
Irgendwann entschuldigte sich der Schuhmacher und überquerte die Avenida Atlântica in Richtung Strand. Er setzte sich auf eine Bank und atmete tief durch. Das Wasser kam und ging und rauschte schäumend über den Sand. Max mochte das Meer, die Berge, die unberührte Natur. Er hatte Sehnsucht. Sehnsucht nach einer verlorenen Hoffnung, nach einer Perspektive, die ihm half, seine grauen Tage zu erdulden. Jetzt verstand er die Verstümmelten und ihre Sehnsucht nach einem verlorenen Körperteil. Aber was hatte Max anderes verloren als eine illusorische Krücke?
Nie hatte er ein böses Wort über sie gesagt, nie hatte er sie verachtet. Von früh an hatte sein Vater ihm beigebracht, dass echte Männer Prostituierte respektierten. Er bezahlte sie pünktlich und brachte keine Gefühle mit nach Hause. Manchmal legte Max ein paar Münzen beiseite, um zu einer der Neuen zu gehen, die frisch vom Land gekommen waren. Bald hatte er inKattowitz seine Lieblingsfrauen, und über zwei von der Polizei nie aufgeklärte Todesfälle war er persönlich schockiert.
In Brasilien führte er diese Tradition in den Pensionen von Glória fort. Er war fasziniert von der lateinamerikanischen Hitze, der Trägheit der Mulattinnen, ihrem zwanglosen Geplauder nach getaner Arbeit. Brasilianische Huren waren mit Leidenschaft bei der Sache. Man konnte bei ihnen anschreiben, und sie hatten mehr Freude am Sex als ihre Freier, wobei sie je nach Bedarf aus den einen das Letzte herausholten und den anderen etwas vorspielten. Sie wurden zu Freundinnen, Ratgeberinnen, Vertrauten. Und die Polackinnen?
Max mied sie, er weigerte sich, für eine Frau zu bezahlen, der Worte wie Matze oder meschugge bekannt waren. Er konnte diese beiden so gegensätzlichen Welten einfach nicht zusammenbringen. Es wäre ihm vorgekommen, als säßen seine Großeltern Shlomo und Rebekka auf der Bettkante und schauten ihm bei seinen Schweinereien zu. Nein, Judentum und Wollust vertrugen sich nicht. Die Juden betrachteten sich gern als Glied einer Kette der Tugend, die sich auf Werte wie Ehre und Wissen gründete. Die Polackinnen dagegen wurden mit nur einem Wert assoziiert – dem finanziellen. An der Praça Onze empfand man im Allgemeinen eine Mischung aus Mitleid und Abscheu für diese liederlichen Frauen, die ein dunkles Kapitel in die Geschichte des auserwählten Volkes schrieben. Das Problem wurde offensichtlich,wenn jiddische Theatergruppen nach Rio kamen und die Polackinnen unbedingt in den ersten Reihen sitzen wollten, worauf die besseren Familien empört reagierten. Wie oft hatte nicht eine Aufführung aufgrund von Wortgefechten und Rauswürfen zu spät angefangen?
Sie standen vor den Schaufenstern des Mangue, des Rotlichtviertels, und gaben sich als Französinnen aus. Sie hatten ihre eigene Synagoge am Platz der Republik, wo sie an den Feiertagen lachten und weinten und sich an Sänger und Zeremonienmeister hielten, weil kein anständiger Rabbi sich mit ihnen abgab.
Sie waren ein Stamm für sich und übten den
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