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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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jüdischen Glauben auf ihre Weise aus, indem sie sich gegenseitig halfen und auf dem verrufenen Friedhof von Inhaúma beerdigten (Spöttern zufolge das letzte Bordell). Seit ein paar Jahren schloss die Polizei »Judenhöhlen« und schob ihre Zuhälter ab, zum Leidwesen der armen Mädchen, die jetzt auf eigene Faust arbeiteten, die Branche wechselten oder in Sanatorien und Irrenhäusern dahinsiechten. Gut gemacht, würde man als vernünftiger Mensch denken. Wie konnten sie es wagen, Gottes Gesetze zu missachten und gleichzeitig eine Synagoge mit allem Drum und Dran zu betreiben? Wie konnten sie es wagen, die Thora neu erfinden zu wollen und die Zehn Gebote um ein elftes zu ergänzen, indem sie behaupteten, alle anderen seien relativ, müssten überdacht werden, ließen sich drehen und wenden und mal eben so aufheben?
    Und Hannah, wie passte sie in diese Geschichte? Wie sah ihre Vergangenheit aus, was waren ihre Ziele, ihre Motive? Hatte die frühe Witwenschaft sie ins Unglück gestürzt? War auch sie ein Opfer des Schicksals und von grausamen Zuhältern aufgegriffen worden? Was hatte sie nach Brasilien verschlagen, von wem war sie getäuscht worden? Wer hätte sie täuschen können? Hannah war so ganz anders als ihre Kolleginnen, auch weil die Polackinnen Analphabetinnen waren und alles andere als kultivierte Denkerinnen.
    Max versuchte immer noch zu vergessen, wie er an jenem schicksalhaften Nachmittag ohnmächtig wurde, wie Fany ihn unter der kalten Dusche ohrfeigte, bevor sie ihn nach Hause brachte, und auch die vier Tage im Bett, die sie fiebermessend an seiner Seite verbrachte, ihm Suppe kochte und die Laken wechselte. Seinen Kunden erklärte sie, Senhor Kutner erhole sich von einer »leichten Grippe«. Am Abend machte sie sauber, zog sich in eine Ecke zurück und schlief so lange wie nötig, um den nächsten Tag mit frisch duftendem Kaffee zu begrüßen. Als Max sich erholt hatte, packte Fany ihre Siebensachen und machte sich, die prallen Rundungen in ein gestreiftes Kleid gezwängt, ohne viel Aufhebens auf den Weg.
    Zur Routine zurückzukehren glich einem Martyrium. Altenheime, Synagogen, Theater? Unvorstellbar. In diesen schweren Stunden fragte sich Max, was er noch für Hannah empfand. Achtung? Respekt? Dankbarkeit vielleicht, weil sie eine ungeahnte Energiein ihm freigesetzt hatte. Er erinnerte sich an das Ende des Winters in Polen, wenn die dürren Zweige grüne Knospen bekamen und das Leben ankündigten, das bis dahin unter dem Eis geschlummert hatte. Rot, gelb, lilafarben brachen sie hervor, zur Freude der vom Schnee getrübten Blicke. Und wie alles roch, schmeckte und sich anfühlte. Kurz gesagt, Hannah war sein Frühling. Das mag kindisch klingen, wäre der Frühling nicht gleichzeitig Vorbote gefährlicher Viren und Gifte. Doch deswegen war er nicht weniger wundervoll, so wie auch die Briefe, die Hannah weiter an ihre Schwester schrieb.
    Arme Guita, die sich so viele und so ausgefeilte Lügen anhören musste. Die im Glauben an die Unschuld ihrer Schwester regelmäßig nach ihrem Schwager fragte und nach Josef. Einmal wollte sie von Hannah wissen, ob sie ihr auch »alle« ihre Geheimnisse anvertraue. Die lapidare Antwort kam mit einer Postkarte: »Die Wahrheiten, die ich sage, müssen nicht alles sein, damit alles, was ich sage, wahr ist.«
    Ein Knall holte ihn aus seinen Träumereien: Zeit, zurück ins Copacabana Palace zu gehen. Max erhob sich träge von seiner Bank. Er wollte gerade die Straße überqueren und war in Gedanken schon beim nächsten Whisky, da stockte ihm der Atem. Wie benommen stand er da. Fast wäre er überfahren worden. Das konnte doch nicht wahr sein! Er musste geträumt haben, oder war es wirklich Hannah Kutner, die eben vor dem Hotel in einem schlichten schwarzenKleid, die Haare zum Knoten gebunden, aus einem Wagen gestiegen war. Was machte sie hier? Es konnte nicht Hannah sein. Wahrscheinlich musste er einen Arzt aufsuchen, er delirierte ja schon, am besten, er ließ sich eine anständige Spritze verpassen, bevor ihm noch Moses vom Corcovado winkte oder der Zuckerhut sich in den Berg Sinai verwandelte. Du musst dich behandeln lassen, Max! Vielleicht sollte er trotzdem vorher noch den Concierge befragen.
    »Die Frau in Schwarz … die gerade reingekommen ist …«
    »Welche Frau?«, unterbrach ihn irgendein Flegel vor dem Fahrstuhl.
    »Die in Schwarz … Hannah.«
    Darauf der Flegel: »Haben Sie noch nie eine Frau gesehen?«
    »Ich kenne sie …«
    »Nein, bestimmt

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