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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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empört.
    »Ein Jude, der nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.«
    Hannah machte die Zigarette im Tee aus.
    »Ein Jude, der Realist ist, glaubt nur an die richtigen Wunder.« Sie sah auf die Uhr. »Die Zeit ist um. Oh, verzeihen Sie, ich rühre kein Geld an, klären Sie das mit Fany. Schönen Tag noch, hat mich gefreut.«
    Am Boden zerstört gab Max Fany das Geld. Er war schon fast zur Tür raus, als Hannah ihm mit dem Koffer hinterherkam.
    »Nehmen Sie den bitte mit. Wie schwer der ist …«
    »Da sind Bücher drin«, sagte Max.
    »Bücher?«
    »Ich wollte sie einem Altenheim spenden.«
    »Einem Altenheim?«
    Max nickte.
    »Sie sind auf Jiddisch.«
    Hannah sah ihn überrascht an.
    »Auf Jiddisch?«
    »Tschechow, Scholem Alejchem, Dostojewski …«
    »Haben Sie die alle gelesen?«, fragte sie ungläubig.
    »Alle.«
    Hannah und Fany warfen sich einen Blick zu. Fany strahlte.
    »Warum spenden wir sie nicht dem Gelben Haus?«
    Hannah lächelte.
    »Eine sehr gute Idee! Haben Sie nächste Woche Zeit, Max?«
    * * *

    Rio de Janeiro, 1. Februar 1938
    Guita,
    ich habe heute Zeitung gelesen.
    In Rio hat es acht Selbstmorde gegeben. Spanien ertrinkt im Blut, Hitler will Österreich, im Amazonasgebiet ist ein Schiff untergegangen.
    Und ich, armes Mädchen, weißt Du, was ich unterdessen gemacht habe? Birnen gekauft.
    Einmal habe ich Papa gefragt, warum in der Zeitung nicht steht, dass die Menschen an Sabbat spazieren gehen, danach wieder nach Hause kommenund nachts schlafen. Da hat Papa gesagt: »Na, weil das immer passiert.« Dann habe ich gefragt, warum in der Zeitung immer nur Katastrophen stehen, zum Beispiel Brände oder Erdrutsche. »Na, weil das sonst nie passiert.«
    So sieht unser Leben aus.
    Ich würde gern wissen, warum die Zeitungen nicht schreiben, dass die Flugzeuge gestern ohne Probleme gestartet und gelandet und die Straßenbahnen auf ihren Gleisen gefahren sind. Warum erinnern sie uns nicht daran, dass es an Sonnentagen keine Überschwemmungen und an Regentagen genug Wasser gibt?
    Warum schreiben sie nicht, dass jemand einen Kuchen gebacken hat, dass er keine Langeweile oder keine Grippe mehr hat? Ist das alles so selbstverständlich, so wahrscheinlich, dass es keiner Erwähnung wert ist? Der Alltag ist also nicht interessant?
    Hört her, liebe Zeitungen, heute habe ich Birnen gekauft, auf der Straße haben sich zwei Freunde umarmt, Dona Maria hat das Meer gesehen, und das Meer hat Dona Maria gesehen. Wenn ich eure Schlagzeilen lese, liebe Zeitungen, dann habe ich das Gefühl, dass das Ende der Welt naht. Und wenn ich fertig mit Lesen bin, was sehe ich dann? Eine Katze am Fenster. Ich höre ein Baby weinen oder die Musik, die der Wind herüberträgt.
    Habe nur ich gestern Birnen gekauft? Sie waren wunderbar! Woher kommen sie, diese Birnen? Kann mir das jemand sagen?
    Das heißt nicht, dass mich die Tragödien, die Dramen, das Außergewöhnliche nicht interessieren. Das alles ist wirklich besorgniserregend. Aber das ist es gerade wegen der Birnen. Sie sind es, die wir schützen wollen.
    Vielleicht wehrt man sich am besten gegen den Krieg, indem man den Frieden preist.
    Oder ist das so offensichtlich, dass man es nicht schreiben muss?
    Hannah
    * * *
    Um drei Uhr morgens klopfte es laut gegen die Tür seiner Werkstatt. Max sprang aus dem Bett und stieß sich ein paar Mal, bevor er den Schlüssel gefunden hatte. Draußen rief jemand seinen Namen. Drei Männer standen auf dem Bürgersteig.
    »Max Kutner?«
    »Ja.«
    »Kommen Sie bitte mit, ein dringender Einsatz.«
    Der Wagen preschte durch die Dunkelheit, bog mit quietschenden Reifen um die Ecken und hielt schließlich in der Rua da Relação. Die Männer begleiteten Max durch die Flure der Wache, bis er zu seiner Erleichterung Leutnant Staub sah, der ihm als Erstes einen Kaffee anbot. Man habe einen »wichtigen« Fang gemacht und wolle keine Zeit verlieren.
    »In Zeiten des Krieges gibt es keine Gerechtigkeit, Senhor Kutner. Jeder muss selbst entscheiden, welchesUnrecht er begehen und welches er bekämpfen will. Ich hoffe, Sie haben Verständnis für unsere Arbeit.«
    Sie liefen durch einen Gang, vorbei an hin und her eilenden Gesichtern und schweren Gittern, hinter denen wieder andere Gänge lagen. Schließlich gelangten sie in einen Innenhof, der von zwei Etagen voll belegter Zellen umgeben war. Polizisten absolvierten ihre Rundgänge und ignorierten die Hände, die an den Gitterstäben klebten oder Zigaretten schwenkten, in der Hoffnung, dass ihnen jemand

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