Hannahs Briefe
Feuer gab. Es schmerzte den Schuhmacher, Männer zu sehen, die wie tollwütige Tiere in Käfige gepfercht waren. Oj wej, und das in einer Zivilisation, die Jahrtausende alt war. Sprache, Verstand, Empfindungen, hatte das alles denn nichts bewirkt?
Für Max waren diese Keller immer ein Mythos gewesen – er hatte davon gewusst, sie aber nie gesehen. Ihre Existenz gereichte dem Estado Novo nicht gerade zur Ehre, zumal dieser der Presse den schönen Schein vorgaukelte (selbst die Dürren im Nordosten wurden verharmlost) und die im Radio übertragenen Reden und Hymnen über die Fehler der Regierung hinwegtäuschten – aber nur der eigenen, denn dieselben Zeitungen ließen sich ausführlich über die politischen Säuberungen Stalins, seine Massenerschießungen und die sibirischen Arbeitslager aus.
Staub brachte Max in einen Flügel, in dem es heiß war und stank und die Aufseher so breit waren wie die Zellentüren.
»Das sind die Einzelzellen«, erklärte der Leutnant und bat Max in einen kleinen Raum.
In der Mitte stand ein Tisch, auf dem Geld, durchlöcherte Kleidungsstücke, eine Zeitschrift und Postkarten von einem Juden lagen, der, aus Buenos Aires kommend, eine Packung Schlaftabletten eingeworfen hatte, um der Vernehmung beim Zoll zu entgehen. Zwischen den Seiten eines Buches steckten ein paar lose Blätter mit hebräischer Schrift. Max sollte sie laut und deutlich übersetzen, während Leutnant Staub und zwei Polizisten danebenstanden, die bereits Stift und Schreibblock zückten. Der erste Text war ein zionistisches Gedicht, in dem das Auserwählte Volk dazu aufgerufen wurde, seinen eigenen Staat zu errichten. Auf den anderen standen unzusammenhängende Wörter und Zahlen neben abstrakten Zeichnungen. Vielleicht war der Inhaftierte nur ein Bote, der Geld und Nachrichten überbrachte, die aus irgendeinem Grund nicht per Post verschickt werden sollten. Ein armer Jude, der seinen Lebensunterhalt auf ganz prosaische Art verdiente, indem er harmlosen Klienten Kosten und Risiken ersparte. Sein einziges, rein formelles Vergehen: Dass er die Polizei nicht darüber informiert hatte, was er im Futter seiner Jacke beförderte.
Max hätte ihn lieber für subversiv erklärt und die Sache vergessen. Das Beste war immer noch, sich hinter seinen Gewissheiten verschanzen zu können. Aber das gelang ihm nicht. Seit er für die Polizei arbeitete, ahnte Max, dass es noch eine andere Welt gab, jenseitsder seinen, die von Klischees und festen Vorstellungen geprägt war. Er hatte erfahren, dass in einem Krieg alle Opfer waren, dass Menschen das Produkt ihrer Lebensumstände darstellten und dass ein Millimeter mehr oder weniger Barone zu Bauern machte – oder umgekehrt. Wie oft hatte Max sich gefragt: Wer bin ich? Woher der Anspruch, authentisch sein zu wollen, wenn er doch nur das Ergebnis eines Kontextes war, einer bereits existierenden Kultur mit ihren Lastern und Tugenden, ihren bestehenden Verbindungen, einer Kultur, die ihm eingeflößt wurde, bevor er sich selbst kennenlernen konnte, bevor er sich in einen Schwamm verwandelte, dessen einzige Fähigkeit darin bestand, das Vermächtnis anderer aufzusaugen, um sich dann später auswringen zu lassen und abzuliefern, worauf nachfolgende Generationen bereits sehnsüchtig warteten.
Plötzlich war ein Schuss zu hören, gefolgt von einem Schrei. Staub und die beiden Polizisten liefen hinaus. Max betrachtete den Stapel Papiere auf dem Tisch und blätterte in einer spanischsprachigen Zeitschrift. An der Kante lagen drei Bündel Dollarscheine und ein paar Postkarten. Auf einer sah man den erst vor kurzem errichteten Obelisken von Buenos Aires, darunter Autos auf einer breiten Straße. Die Rückseite war unbeschrieben, auf den ersten Blick jedenfalls. Als Max sie gegen das Licht hielt, entdeckte er Spuren, als hätte jemand etwas mit Bleistift geschrieben und wieder ausradiert oder auf einem Blatt, das auf der Postkarte lag, stark aufgedrückt. Er ging näher heran,kniff die Augen zusammen und erstarrte: Die winzige Handschrift kam ihm bekannt vor, das Aleph mit den bogenförmigen Enden, das eingerollte Gimel.
Man spioniert mich aus. Angeblich sind Deine Briefe verschlüsselt. Vermeide in Zukunft poetische Betrachtungen und Begriffe wie Birnen oder Tante Sabinas Parfüm. Sei bitte trivialer und weniger Hannah.
Guita
Max las die Karte noch einmal. Es war weder Einbildung noch Zufall: Sowohl Guita als auch Hannah waren in Gefahr. Oj, main Got! Was sollte er tun? Konnte er es wagen,
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