Hannahs Briefe
Gesetze den deutschen Juden ihre Staatsangehörigkeit entzogen, egal ob sie bedeutende Wissenschaftler oder einfache Hafenarbeiter wie der Vater des Kindes waren. Hitler machte die »jüdische Pest« für die Probleme im Land verantwortlich, und das waren nach dem verlorenen Krieg nicht wenige.
Das Haus füllte sich mit armen Leuten, die fröhlich taten und dem Sohn von Oskar Stein Glück wünschten. Insgeheim fragten sich viele nach dem Sinn von Beschneidungen in diesen finsteren Zeiten. In Nazideutschland konnte das den Jungen ins Verderben stürzen. Die Optimisten hofften noch auf eine Wende. Vielleicht kamen ja bald die Amerikaner oder die Russen und drehten dem Führer die Luft ab. Vielleicht ergriff Gott ja die Maßnahmen, vor denen die Franzosen und Engländer sich drückten, als ginge sie die Entwicklung des Nationalsozialismus nichts an.
Das Leben in Hamburg machte es nur noch schlimmer. Oskar Stein arbeitete im Hafen und schleppte bis zur Erschöpfung Säcke. Manchmal ließ er hier oder da etwas mitgehen, um es selbst zu essen oder auf dem Schwarzmarkt an den Mann zu bringen. Horden von Arbeitslosen zogen durch die Stadt – darunter Nazibanden,die es auf Juden wie Oskar, deren einziges Ziel es war, ihr täglich Brot zu verdienen und zu segnen, abgesehen hatten.
Doch selbst das war in Hamburg ein undenkbarer Luxus. Drei junge Männer mit Hakenkreuzbinden fingen eines Tages an, Oskar zu verhöhnen und zu bedrohen. Oskar ignorierte sie und kümmerte sich um seine Angelegenheiten, bis es immer schlimmer wurde und sie ihn festhielten und zwangen, ein Kilo Schinken zu essen und mit einer Flasche Wodka hinunterzuspülen. Der Anführer der Bande schäumte vor Wut, als er erfuhr, dass Oskar Vater werden sollte.
»Noch so ein Wurm, der Deutschland in den Abgrund reißt.«
Zehn Tage später sprach der Mohel die Gebete, während der »Wurm« tief und fest schlief und die Mutter nervös auf einem Tuch herumkaute. Die Gäste standen schweigend um den Paten mit dem Baby. Als der Mohel das Messer nahm und die Vorhaut mit einer Pinzette zurückschob, schlossen einige die Augen, andere hielten sie auf. Sie warteten, bis das Baby schrie und der Bund mit Abraham eingegangen war, doch plötzlich durchbrach ein schauderhafter Chor die Stille:
»Heil Hitler!«
Draußen marschierte die Bande laut brüllend und mit erhobenem Arm im Kreis, bis ein Stein durchs Fenster flog und einen der Anwesenden verletzte. Der Pate wurde blass, und der Mohel unterbrach dasRitual. In seiner Hand blitzte die Klinge, die Oskar ihm entriss, bevor er wie ein Besessener mit festem Schritt den Raum durchquerte.
»Oskar, nein!«, flehte seine Frau ihn an. »Nein, Oskar, nein!«
Doch der bahnte sich wütend seinen Weg an den Gästen vorbei und riss die Haustür auf. Die Gebete richteten sich nun zum Fenster hin, während draußen das Blut auf den Bordstein spritzte. Oskar kämpfte mit Schlägen und Tritten gegen drei Männer auf einmal, im Grunde eine verlorene Schlacht, wäre da nicht die rasende Wut gewesen, mit der er, das Messer hinter vorgehaltener Hand, auf den Anführer zustürmte und ihm mit einem sicheren Hieb die Kehle durchschnitt. Der Nazi schrie auf, krümmte sich und sackte blutend zusammen.
»Jetzt seid ihr dran!« Oskar hielt die blutverschmierte Klinge in die Luft und stürzte hinter den anderen her.
Eine halbe Stunde später kehrte er zurück, bat um Geld und um Verzeihung, gab dem Mohel das Messer zurück, nahm Frau und Kind und verkündete, er werde Deutschland für immer verlassen.
Den folgenden Monat versteckten die Steins sich im belgischen Antwerpen, wo sie im Laderaum eines Schiffes hingelangt waren und bei einem älteren Ehepaar auf dem Dachboden unterkamen. In einem Brief bat Oskars Frau einen Verwandten in Rio de Janeiro um Hilfe. Nach Brasilien auszuwandern war bekanntermaßenschwierig, weil ganz Amerika für europäische Juden die Grenzen schloss. Von Lissabon bis Warschau spielten sich schreckliche Szenen in den Botschaften und Konsulaten ab.
Oskar mochte schon nicht mehr beten, als eines eisigen Nachmittags seine belgischen Gastgeber einen vornehmen Fremden empfingen, der die Steins fotografieren wollte. »Wozu?«, fragte Oskar misstrauisch. »Für die Pässe.« Nur das Baby lächelte auf den Fotos nicht. In wenigen Tagen sollte die Familie auf einem Ozeandampfer in See stechen. Am Hafen überreichte der Fremde ihnen einen dicken Umschlag mit Papieren, etwas Geld und Reiseinformationen. In drei Wochen würden
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