Hannahs Briefe
die Serpentinen hinaufschob. Hannah schlief seit ihrer Abfahrt und wachte erst in Minas Gerais wieder auf. Sie brachte ihren Schal in Ordnung und sah auf die Uhr.
»Noch eine Stunde bis São Lourenço«, sagte sie und kämmte sich die inzwischen kurzen, glatten Haare. Sie hatte ihr Äußeres komplett verändert.
Hannah und Max gaben sich als Sylwia und Alexander Kazinski aus, ein polnisches Ehepaar, das Urlaub in Brasilien machte. Als Katholiken wollten sie Weihnachten mit Landsleuten in Curitiba verbringen und vorher den Circuito das Águas besuchen, eine Thermenstraße in Minas Gerais, die mit Heilquellen undKasinos lockte. Sie hatte Probleme mit dem Magen, er mit den Nieren. Alexander war Schreiber in einem Warschauer Notariat, Sylwia arbeitete nicht.
Kurz vor der Ankunft fragte Max, welche Verbindung zwischen Oskar Stein und ihrer »geheimen« Mission bestünde. Er wusste natürlich, dass Nazispione in Brasilien ihr Unwesen trieben und dass sie zu bekämpfen – oder zumindest im Auge zu behalten – Aufgabe von Leutnant Staub war, an den Hannah die Aussage des deutschen Hafenarbeiters weitergeleitet hatte.
Die von Stein entdeckten Panzer verstärkten nämlich den Verdacht gegen einen Zollbeamten in Santos, Brasiliens größtem Hafen und damit einem der wichtigsten Spionageziele in Lateinamerika. Was in Santos ankam und es wieder verließ, konnte wesentlich für das Schicksal des ganzen Kontinents sein, versicherte Staub, der jeden Winkel der Stadt kontrollierte. So weit, so gut. Der Zollbeamte war ein Intimus des deutschen Konsuls, die beiden gingen regelmäßig in Hafennähe fischen und kehrten eine halbe Stunde später ohne einen einzigen Fisch zurück. Sehr seltsam, fand ein alter Fischer, zumal die Viecher dort sowieso nicht anbissen, so unruhig und schmutzig, wie das Wasser war. Und so stellte sich die Frage: Was heckten der Beamte und der Konsul in ihrem Bötchen aus?
Staubs Leute hatten das Ausladen der Panzer in Santos verfolgt und auch den weiteren Verlauf beobachtet, um gegebenenfalls im richtigen Momentzuschlagen zu können. Dabei war ihnen auch ein merkwürdiges Paar aufgefallen, das ein paar Tage später auf einem norwegischen Dampfer ankam. Franz und Marlene Braun wurden von einem Assessor des deutschen Konsuls abgeholt und in ein Haus gebracht, in dem sie sich eine Woche lang verkrochen und jede Menge Besuch empfingen. Wem galt all diese Ehrerbietung? Worin bestand das Geheimnis der Brauns, und inwiefern waren sie in die heimliche Panzerlieferung verwickelt? Das sollten Hannah und Max herausfinden.
»Warum São Lourenço?«, fragte der Schuhmacher.
»Die Brauns haben vorgestern zum ersten Mal das Haus verlassen, um dorthin zu fahren. Staub sagt, sie seien allein und sprächen mit niemandem. Wir steigen im selben Hotel ab.«
Max konnte es nicht fassen. In was war er da bloß hineingeraten? Womit hatte er das verdient? Und was sollte er davon halten, dass er plötzlich neben Hannah in einem Zug nach São Lourenço saß? Einerseits war da die Angst vor der Ungewissheit, andererseits der aufregende Gedanke, wie weit sie gehen würden, um sich als Ehepaar auszugeben. Würden sie im selben Zimmer schlafen und Hand in Hand durch den Park laufen, sich die Heilquellen ansehen und Käsebrote essen? Was würden sie sonst noch alles im Namen der nationalen Sicherheit tun? Vielleicht war Hannah ja jetzt, unter diesen Umständen, in einer anderen Umgebung, nach all dieser Zeit, eine andere, und er selbst auch ein anderer? Vielleicht zeigte das halbe JahrTrennung ja unverhoffte Wirkung. Wie oft war eine solche Trennung zwar auf ewig gedacht, dann aber doch nur vorübergehend, eine irrtümliche Pause, in deren unschuldigem Schoß ein Wiedersehen gedieh? In São Lourenço würde es sich zeigen.
Es war drei Uhr nachmittags, als sie ankamen. In den Kopfsteinpflastergassen standen kleine Häuser, aus denen es nach Feuerholz roch. Leiterwagen knarrten zwischen Fahrrädern, Fiakern und einigen wenigen Autos. Die Männer trugen Strohhüte, die Frauen geblümte Schirme. Zerlumpte Jungen ließen barfuß Drachen steigen.
Das Hotel Metrópole lag an einer zentralen Ecke direkt am Park. In ihrer Suite im zweiten Stock hörten Hannah und Max das Trotten der Pferde auf dem Pflaster. Nachdem die Koffer ausgepackt waren, rüsteten sie sich mit bunten Gläschen aus und gingen sich die Quellen ansehen. Sie probierten schwefel-, magnesium- und eisenhaltiges Wasser. Die ganze Anlage war sehr hübsch und äußerst gepflegt,
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