Hannahs Briefe
sie in Rio de Janeiro an Land gehen. Laut Dokument war Oskar ein erfahrener Ingenieur, der in Deutschland in der Kriegsindustrie gearbeitet hatte. Das war nötig, weil Brasilien nur Einwanderer aufnahm, die in »strategischen« Berufen arbeiteten – Wissenschaftler, Ingenieure, Agronomen – und das Land zu der Nation aufbauen konnten, von der die Machthaber träumten.
Eher sprachlos als euphorisch begaben sich die Steins an Bord in die dritte Klasse und verließen die Kabine vorsichtshalber nur zu den Mahlzeiten, um so Gespräche mit Unbekannten zu vermeiden. Und trotzdem liefen sie einem gläubigen Juden über den Weg, den Oskar etwas verlegen fragte, ob es verzeihlich sei, ein Baby erst nach zwei Monaten zu beschneiden statt am traditionellen achten Tag. Die Antwort des klugen Mannes lautete:
»Wenn Abraham es mit neunundneunzig gemacht hat, warum nicht? Schreiten wir doch gleich zur Tat. Ich bin zufällig Mohel .«
Eine Stunde später nuckelte das Baby an einem in süßem Wein getränkten Tuch und ging den Bund mit Gott ein, während vor der Tür Beifall geklatscht wurde: Masel tov, Masel tov!
In Rio fing Oskar als Küchenhilfe in einem Restaurant an der Praça Onze an. Sechs Monate später trug er Fliege und ein Tablett in der Hand und notierte auf Jiddisch und Portugiesisch die Bestellungen. Von Zeit zu Zeit musste er im Palácio do Itamaraty, dem Außenministerium, vorstellig werden, wurde dort aber lediglich nach seinem Wohnort und Unwichtigem wie Krankheiten oder Alltagsdingen befragt. Oskar sprach den Verwandten seiner Frau regelmäßig darauf an, wie er zu den Papieren gekommen sei, die man ihm in Antwerpen überreicht hatte: brasilianische Pässe und höchstamtliche Dokumente mit diversen Stempeln und Siegeln. Der Verwandte wich aus, versicherte ihm jedoch, dass sie keine Probleme bekämen und sein Status als Ingenieur nur eine bürokratische Kleinigkeit sei, für die sich niemand interessierte. Stein wiederum verschwieg dem anderen den Vorfall in Hamburg, der sich immerhin vor langer Zeit und in weiter Ferne zugetragen hatte.
Oskar und seine Frau waren begeistert von Rio, wo Hitlers Übergriffe nur in den Zeitungen stattfanden, die ein paar Jungs an den Straßenbahnhaltestellenverkauften. Mitte 1938, nachdem das zweite Kind zur Welt gekommen war, wurde Oskar zum Geschäftsführer des Restaurants befördert, und die Familie zog in ein Haus nach Tijuca. Die Frau trug mit ihrer Nähmaschine zum Lebensunterhalt bei, und die Sonntage verbrachten sie in der Quinta da Boa Vista.
Als es eines Nachts an der Tür klopfte, träumte Oskar schon nicht mehr auf Deutsch.
»Senhor Stein! Senhor Stein!«
Die Frau hielt die Kinder umklammert, während Oskar drei ernst dreinblickenden Herren öffnete.
»Entschuldigen Sie die Störung. Sie sind doch Waffeningenieur, nicht wahr? Kommen Sie bitte mit, wir haben einen Notfall.«
Sie setzten ihn in einen Wagen und brachten ihn zum Kai an der Praça Mauá.
Ein Zollbeamter empfing ihn mit den Worten: »Als Jude dürften Sie ja bestens geeignet sein, sich die Nazis mal näher anzusehen.« Dann erklärte er ihm, warum sie ihn geholt hatten. Einem brasilianischen Spion waren verdächtige Gegenstände im Laderaum eines deutschen Schiffes aufgefallen, das am nächsten Morgen nach Santos auslaufen sollte.
»Die Dinger sehen aus wie Kanonen«, erklärte der Spion, woraufhin Oskar versuchte, seine Angst zu überspielen, indem er unsinnige Fragen stellte und Fachwissen vortäuschte.
Der Beamte mischte sich ein: »Mit Beschreibungen kommen wir nicht weiter, Sie müssen sich das ansehen. Wir brauchen ein offizielles Gutachten.« Dannwies er zwei Polizisten an, den Juden an Bord zu begleiten.
Der Kapitän fluchte über die »provokative« Inspektion und wies darauf hin, dass das Schiff »Reichsgebiet« sei und er deswegen verlange, den deutschen Botschafter zu sprechen. Er lasse Oskar nur als Zeichen guten Willens an Bord, betonte er schließlich. Eine Delegation kletterte die steilen Treppen hinab in den düsteren Laderaum voller Kisten und Säcke, bis sie vor den fraglichen Objekten standen.
»Das sind auseinandermontierte Traktoren, sonst nichts«, brummte der Kapitän. »Was soll die ganze Aufregung?«
»Das wissen Sie genau«, entgegnete einer der Polizisten.
Oder musste man ihm wirklich erklären, dass Südbrasilien mit seinen Abertausenden von hitlertreuen Deutschen ein Pulverfass war?
»Sie können die Papiere überprüfen.« Ein Matrose reichte Oskar einen Stapel
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