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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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mit Zahlen und Codes. »Die Traktoren sind bestellt, von einem Landwirt in … wie spricht man das aus? Genau, Santa Catarina.«
    Oskar blätterte die Papiere durch, zog hin und wieder die Augenbrauen hoch, während er das Kauderwelsch überflog, und betete, so schnell wie möglich wieder verschwinden zu können. Ihm war speiübel und ganz und gar nicht nach Heldentaten zumute. Zum Glück hatte er keine Ahnung, wozu die riesigen Räder, Stangen und Stahlketten gut waren. Was war die Dummheit doch für ein Segen! Gerade wollte ersich erleichtert die Hände reiben, als ihn plötzlich die Gewissheit wie ein Dolchstoß durchfuhr. Ja, jetzt wusste er die Antwort. Er war sich ganz sicher.
    Während seiner Zeit im Hamburger Hafen, als er Reissäcke und Flugzeugpropeller schleppen musste, hatte Oskar sich ein Wissen angeeignet, das alles andere als akademisch, dafür aber vielseitig und beständig war. Er erinnerte sich daran, wie gewissenhaft die Waren etikettiert und gelagert wurden, damit man sie auf keinen Fall verwechselte. Auf diese Weise hatte Oskar seinen Geruchssinn trainiert, er konnte die Herkunft eines Kaffees bestimmen und herausfinden, was sich in diesem oder jenem Fass befand. Bald war er in der Lage gewesen, alles Mögliche nach Namen, Beschaffenheit, Herkunft und Ziel zu benennen, und wusste genau, welche Schraube in welches Getriebe passte und welche Frucht in welche Stadt verschifft wurde.
    Dank dieser Begabung erkannte er jetzt, dass die Teile nicht von einem Traktor stammten. Es waren Bauteile eines Panzers II – eines Kolosses der deutschen Rüstungsindustrie, der in der Tschechoslowakei gebaut wurde. Und hier lagerten zwei Stück davon und warteten darauf, Brasilien zu durchpflügen.
    »Und, Senhor Stein?«, wollte einer der Brasilianer wissen.
    »Können wir draußen sprechen?«, bat der Jude.
    Schweren Schrittes stiegen sie hoch an Deck und wechselten dabei angespannte Blicke, bis Oskar plötzlich von rechts eine Stimme hörte:
    »Ich weiß, wer du bist.«
    Oskar erkannte den Mann, es war einer der Nazis aus Hamburg, der ihm jetzt wütend zuflüsterte:
    »In Brasilien bist du also gelandet … wie schön für dich. Wie hast du das geschafft? Glauben die wirklich, du seist Ingenieur? Na gut.« Er sah ihm in die Augen. »Wenn du uns verrätst, verraten wir dich. Ist es das, was du willst?«
    Oskar zuckte zusammen. Er erklärte dem Zollbeamten, es handele sich tatsächlich um ganz normale Traktoren, es gebe keinerlei Anlass zur Sorge.
    »Wenn Sie als Jude das sagen, muss es ja stimmen«, lachte der Beamte.
    Oskar unterschrieb ein Gutachten, trank einen Kaffee und wartete auf den Wagen, der ihn nach Hause bringen sollte.
    Kurz darauf schloss er seine Frau und seine Kinder in die Arme und fing hemmungslos an zu weinen. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt, und es war nicht gerecht, Brasilien dafür zahlen zu lassen. Er musste etwas tun oder zumindest dafür sorgen, dass andere etwas taten.
    Er ging zu dem Verwandten seiner Frau und forderte ihn auf, ihm endlich zu verraten, wer sein Kontaktmann im Außenministerium oder im Palácio do Catete oder bei der Polizei oder wo auch immer sei. Da er nicht gleich damit rausrückte, erzählte Oskar ihm alles, von den Nazis in Hamburg bis zu seiner Entdeckung der Panzer. Beeindruckt vom Ernst der Lage nahm der Mann Oskar an die Hand und lief mit ihmauf die Straße, um ein Taxi anzuhalten. Sie hatten keine Zeit zu verlieren.
    »Wohin fahren wir?«, wollte Oskar wissen.
    »Zu der Person, die dich gerettet hat, die dir die Pässe besorgt hat, die Visa, alles. Du musst ihr alles erzählen, wirklich alles. Aber …« Er verstummte.
    »Aber was?«
    Sie stiegen in das Taxi, der andere sah ihn eindringlich an.
    »Du musst sehr stark sein, mein Lieber. Ich hoffe, du hältst durch. Glaub mir, es wird nicht leicht sein.«
    »Was soll ich durchhalten?«, wunderte sich Oskar.
    »Das wirst du schon sehen.« Und an den Fahrer gewandt: »Nach Rio Comprido, bitte.«

Kapitel 7
    Der Zug schlängelte sich durch den atlantischen Urwald, ein Dickicht aus Bäumen und Blumen, überschattet von den Gipfeln der Serra da Mantiqueira. Es ging nur langsam voran. Die Strecke führte über Brücken und steile Kurven, und im Waggon hörte man die Geräusche des Dschungels und die Flüsse, die in Wasserfällen und kristallklaren Seen endeten. Hannah und Max waren seit sieben Stunden unterwegs, mit zwei langen Pausen, in denen man die Lokomotive umstellte, die den Zug auf ebener Strecke zog und

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