Hannahs Entscheidung
aufgeblitzt, und er hatte ihr vor lauter Dankbarkeit die Hand geküsst. Armselige Kreatur! Es hatte nur noch gefehlt, dass er zu sabbern begonnen hätte. Sicherlich war er einmal ein gut aussehender Kerl gewesen, dem die Frauen gern nachgeschaut hatten. Doch leider war ihm seine verhängnisvolle Liebe zum Alkohol an der geröteten Nasenspitze abzulesen. Gloria hatte das Flackern in seinem unsteten Blick registriert, der allzu oft auf ihr Dekolleté gerichtet war. Dank ihres reizenden Stiefvaters erkannte Gloria Trinker aus zehn Metern Entfernung. Sie hatte nicht viel übrig für sie. Wäre ihr Interesse nicht so groß gewesen, diese Mulligan loszuwerden, hätte sie Shane mit Sicherheit nicht weitergeholfen. Seit dem Tag, an dem sie ihn in Joe’s Autowerkstatt traf, hatte sie ihn nicht mehr wiedergesehen. Ob er sich noch in der Stadt herumtrieb? Oder war er etwa unverrichteter Dinge heimgekehrt? Gleißende Wut explodierte in ihrem Inneren. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass sie Sam an diesem Abend für sich hätte gewinnen können, wenn er sich nicht in die absurde Idee verrannt hätte, sich um dieses Flittchen aus Ohio zu kümmern. Zweifellos hatte Hannah mit ihren unschuldig dreinblickenden Augen seinen Beschützerinstinkt geweckt. Männer waren ja so leicht zu durchschauen! Sie bedachte den rotgesichtigen Barkeeper, der ihr soeben mit einem scheuen Lächeln den Mint Julep brachte, mit einem verächtlichen Blick. Ohne ein Wort des Dankes nahm sie das Glas entgegen, warf den Kopf zurück und schüttete sich den Drink ganz undamenhaft in die Kehle.
27. Kapitel
» G uten Morgen, meine Liebe. Wie kann ich Ihnen helfen?« Mit liebenswürdiger Miene begrüßte Violet ihre K undin. »Wie geht es Ihnen?«
»Danke, prima«, erwiderte Hannah knapp und schenkte der rundlichen Dame, wie sie hoffte, ein freundliches Lächeln. Ihr stand nicht der Sinn nach einer Plauderei. Sie hatte Green Acres schon im Morgengrauen verlassen, um Sam nicht in die Arme laufen zu müssen. Gott sei Dank hatte sie ihn nach der unglückseligen Begegnung gestern Abend nicht mehr gesehen. Seine Heimkehr letzte Nacht – oder besser am frühen Morgen – war kaum zu überhören gewesen. Das Aufheulen des Motors, ohrenbetäubende Rockmusik – übrigens Bon Jovi mit My Life – sowie lautes Türenschlagen rissen sie aus ihrem Dämmerschlaf. Sie hatte ohnehin nicht wirklich schlafen können, da ihre Gedanken ständig um einen gewissen Mann mit verwirrend grauen Augen gekreist waren. Im Dunkeln hatte sie an die Decke gestarrt und den Geräuschen im Haus gelauscht, bis sie verebbten. Offensichtlich hatte Sam ordentlich getankt. Zumindest ließen das laute Poltern und sein herzhaftes Fluchen darauf schließen. Noch lange, nachdem auf Green Acres endlich Ruhe eingekehrt war, wälzte sich Hannah zwischen den Laken. Sie fragte sich, wie es möglich war, dass der Gedanke an Sam sie nicht mehr losließ. Das, was sie gestern auf dem Festival verspürt hatte, als Gloria ihn so schamlos angetanzt hatte, war Eifersucht gewesen. Ja, Hannah Mulligan war tatsächlich eifersüchtig gewesen. Sie erschrak über diese Erkenntnis.
War Sam ihr schon derart unter die Haut gegangen? Sie hatte den spontanen Entschluss gefasst, am nächsten Morgen nach Charlotte zu fahren, um Ellie zu sehen. Sie brauchte Abstand. Musste ihren Kopf wieder klar bekommen. Und eine wichtige Entscheidung treffen. Da sie Sam unter keinen Umständen hatte wecken wollen, hatte sie sich im Cottage Garden einen Kaffee gemacht, die Zeitung gelesen und dann beschlossen, bei Violet vorbeizuschauen, deren Laden auf dem Weg lag. Sie hinterließ Tayanita eine rasche Notiz, in der sie die Freundin bat, ihr den überstürzten Aufbruch zu verzeihen. Sie würde alles erklären, wenn sie wieder zurückkehrte. Und das würde sie, entschied Hannah. Sie konnte nicht sang- und klanglos aus Tayanitas Leben verschwinden. Sie hatte die Cherokee ins Herz geschlossen. Und schließlich waren da auch noch Sylvia, Deanna, Jackson und McKenna, denen sie versprochen hatte, wiederzukommen. Und Sam. Sam, Sam, Sam. Sie wusste, es gab noch eine Menge Ungesagtes und Ungeklärtes zwischen ihnen. Doch das musste bis nach ihrer Rückkehr warten. Vielleicht sah sie dann etwas klarer.
»Miss Mulligan?« Violet musterte Hannah mit unverhohlener Neugier.
»Ähm … sagen Sie, führen Sie zufällig diese schokoladenüberzogenen Blaubeeren von Dillsboro?«
Violets feine Augenbrauen schnellten hoch. »Sieh an, eine
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