Hannahs Entscheidung
stehen, durchfuhr es Hannah mit erschreckender Klarheit. Eines Tages würde es Ellie in ihrem Leben nicht mehr geben. Dann war sie wirklich und wahrhaftig allein auf dieser Welt …
Ein forsches Klopfen schreckte sie aus ihren dunklen Betrachtungen. Eine Frau Mitte dreißig in einem weißen Arztkittel und mit einem Ordner unter dem Arm bewaffnet trat ins Zimmer. Ihr rotblonder Pferdeschwanz wippte, als sie mit kurzen energischen Schritten auf Ellies Bett zustrebte. »Oh, Mrs. Mitchell, Sie haben Besuch?« Ihr Blick streifte die Pralinenpackung am Fußende des Betts, bevor sie Hannah schmunzelnd eine schmale Hand entgegenstreckte, die erstaunlich kräftig zupacken konnte. »Ich bin Dr. Grey, die behandelnde Ärztin.« Kluge hellgraue Augen taxierten sie freundlich.
»Das ist Hannah Mulligan, Dr. Grey«, stellte Ellie Hannah eifrig vor, ehe diese etwas entgegnen konnte, »meine Enkelin.«
»Schön, dass Sie hier sind.« Dr. Grey besaß ein gewinnendes Lächeln. »Ihre Großmutter hatte Sie bereits sehnsüchtig erwartet. Sie und diese«, sie machte eine leichte Kopfbewegung in Richtung der Pralinen, »sündige Verlockung. Leider musste sie sich jedoch gedulden, denn bis gestern hatten wir Besuche untersagt.«
Hannah erwiderte das Lächeln, erleichtert, dass Ellie von einer offenbar sehr netten Ärztin betreut wurde. Sie erhob sich. »Dr. Grey, bitte sagen Sie mir, wie geht es meiner Großmutter? Sie klagt ja nicht, und behauptet stets, es sei alles nicht so schlimm, aber ich fürchte, sie untertreibt etwas.«
»Nun.« Dr. Grey zwinkerte Ellie vertraulich zu, bevor sie sich wieder an Hannah wandte. »Ihre Großmutter ist eine zähe, willensstarke Dame.«
Wem sagst du das, schoss es Hannah durch den Kopf.
»Als sie bei uns eingeliefert wurde, hätte sie allen Grund zum Klagen gehabt.« Dr. Grey blätterte durch ihre Unterlagen. »Aber«, schmunzelnd sah sie auf, »wenn sie weiterhin so gute Fortschritte macht, können wir sie in ein paar Tagen entlassen. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.« Die junge Ärztin klappte die Akte zu. »Die Schwellung des Schultergelenks ist deutlich zurückgegangen, und mit der Entwicklung der Kopfverletzung bin ich ebenfalls zufrieden. Ein paar Tage Schonung und Pflege noch, dann können Sie wieder nach Hause, Mrs. Mitchell. Werden Sie länger bleiben, Miss Mulligan?«, wollte sie von Hannah wissen. »Ich habe gehört, Sie kommen aus Ohio?«
Hannah wechselte einen sekundenschnellen Blick mit Ellie. »Ja – nein. Ich werde wieder zurück nach North Carolina ziehen. In meine Heimat.«
Über Ellies Gesicht huschte ein Lächeln. Sanft drückte sie Hannahs Hand.
»Eine gute Entscheidung.« Die winzigen Lachfältchen um Dr. Greys Augen vertieften sich. »Es geht nichts über North Carolina. Wer hier aufgewachsen ist, kehrt immer wieder zurück.«
»Ich gehe jetzt besser. Ich möchte dich nicht zu sehr anstrengen.« Mit einem diskreten Blick auf ihre Armbanduhr erhob sich Hannah eine Weile später. Ihre Großmutter wirkte erschöpft.
Ellie hielt sie zurück. »Wo willst du hin, Liebes? Du weißt, dein altes Zimmer wartet auf dich. Fairview ist noch immer dein Zuhause.«
»Ich weiß, danke.« Hannah schluckte.
»Hast du …«
»Aber ja. Ich trage ihn bei mir.« Sie hatte den Schlüssel von Fairview House in all den Jahren sorgsam aufbewahrt, ihn wie einen Schatz gehütet.
»Im Kühlschrank müssten noch ein paar essbare Dinge sein, Herzchen, ansonsten holst du dir bei Trader Joe’s um die Ecke etwas. Brauchst du Geld?«
»Mach dir keine Gedanken. Ich komme zurecht.«
Noch immer wollte Ellie sie nicht gehenlassen. »Sehe ich dich morgen wieder?«
»Natürlich.« Hannah bedachte ihre Großmutter mit einem liebevollen Blick. »Morgen früh schaue ich noch einmal zu dir herein, bevor ich nach Willow Creek aufbreche.«
Ellie hob erstaunt ihre feinen Brauen. »Du bleibst nicht?«
Hannahs schlechtes Gewissen regte sich. Die Enttäuschung in Ellies Stimme war ihr nicht entgangen. »Ich komme wieder«, versprach sie. »Wenn du entlassen wirst, bin ich hier.« Sie schenkte ihrer Großmutter ein aufmunterndes Lächeln. »Und das wird ja nicht mehr lange dauern, wie Doktor Grey mir vorhin versichert hat.«
Ellie musterte sie intensiv. »Ich schätze, es gibt in Willow Creek noch ein paar lose Enden zu verknüpfen, nicht wahr?«
Hannah konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Die alte Dame hatte sie rasch durchschaut. Wie sie das immer schon getan hatte. »Ich denke
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