Hannahs Entscheidung
schroffer heraus als geplant, doch Sam drängte es zurück ans Manuskript. Er wollte die Gedanken festhalten, die ihm durch den Kopf geisterten. Seit langer Zeit verspürte er endlich wieder den Drang und die Muße, zu schreiben. Er fühlte sich beflügelt, ja fast berauscht von diesem Gefühl, deshalb konnte er keine Störung gebrauchen.
»Ich wollte nur hören, was du so machst. Entschuldige.« Gloria klang etwas verschnupft, hatte sich jedoch schnell wieder im Griff. »Vielleicht könnten wir uns auf einen Kaffee im Cottage Garden treffen? Ich vermisse dich.«
»Ich kann nicht«, entgegnete er, innerlich aufseufzend. Gab diese Frau denn niemals auf? Er hatte angenommen, sich auf dem Musikfestival deutlich genug geäußert zu haben. »Ich arbeite. Es tut mir leid.« Nein, das war gelogen. Es tat ihm nicht leid.
»Wie wäre es morgen? Ich habe früh einen Termin mit einem Kunden im Ort, wir könnten …«
»Nein. Wie gesagt, ich arbeite.« Sams Kiefernmuskeln verkrampften sich. »Also, mach’s gut, Gloria.«
» Ich bin sicher, dass die kleine Mulligan bald wieder von der Bildfläche verschwunden sein wird«, unterbrach Gloria ihn kalt. »Sie wird vermutlich nach Charlotte in die Arme ihrer Großmutter flüchten, falls sie nicht doch zu ihrem Mann zurückkehrt. Schließlich wird sie das Kind mit Sicherheit nicht allein großziehen wollen.«
Was faselte Gloria da? Sam rieselte ein Schauder den Rücken hinunter. Bestimmt hatte er sich verhört.
»Sam?«
»Ja, ja, ich bin dran.« Verstört fuhr er sich mit der freien Hand über das Kinn. Was zum Henker sollte das? Warum erzählte Gloria ihm solch einen Schwachsinn? Er presste die Lippen aufeinander. Natürlich. Sie war eifersüchtig und versuchte, Hannah schlechtzumachen. Dass sie dafür jedoch solche Geschütze auffuhr und ihm derart Geschmackloses servierte! Wie armselig. »Ich lege auf.«
»Du wusstest es nicht? O Sam!« Ihre Stimme nahm einen weichen Klang an. Sie war eine hervorragende Schauspielerin und könnte sicher jeder Darstellerin in einer drittklassigen Soap Paroli bieten.
»Du machst dich lächerlich, Gloria.«
Gloria sog scharf die Luft ein. »Wie ungeschickt von mir«, sagte sie kleinlaut. »Es tut mir leid. Sam, bitte glaub mir, ich ging davon aus, dass du …« Ihre Worte klangen aufrichtig bestürzt. Seine Finger verkrampften sich derart um den Hörer, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Dass du Bescheid wüsstest«, fuhr Gloria fort. »Ich hätte meinen Mund halten sollen. Ach, ich denke manchmal wirklich nicht nach.« Sie holte tief Luft. »Allerdings bin ich der Meinung, dass sie dir ihre Schwangerschaft nicht hätte verheimlichen dürfen.«
Eine Flut widersprüchlicher Gefühle stürzte gleichzeitig auf ihn ein, als ihm dämmerte, dass Gloria ihm keinen Bären aufband, sondern die Wahrheit sprach.
»Wenn du mich jetzt entschuldigst«, erwiderte er tonlos. Wie in Trance legte er den Hörer auf die Gabel zurück. Er betrachtete das Blatt Papier, das er vor wenigen Augenblicken noch mit Worten zu füllen gedacht hatte. Eine eiskalte Hand presste sein Herz wie ein Schraubstock zusammen. Wie Luftblasen aus dunklem Gewässer stiegen Erinnerungen auf, die er lieber auf tiefem unberührtem Grund verborgen halten würde. Er griff nach seinem Hals und machte eine Bewegung, als wollte er seine nicht vorhandene Krawatte lockern. Ihm war, als müsste er ersticken.
*
Es war dumm gewesen, fortzulaufen, ohne ihm reinen Wein einzuschenken, überlegte Hannah, während sie den Blinker setzte, um in den schmalen Feldweg einzubiegen. Sie war doch sonst auch kein Feigling. Hitze durchflutete ihren Körper, als sie sich an den leidenschaftlichen Kuss erinnerte, und das lag nicht nur an der drückenden Schwüle draußen. Sams weiche, warme Lippen auf ihren. Sein heißer Atem an ihrem Ohr. Seine sanften Finger auf ihrer glühenden Haut. Unbewusst legte sie ihre Fingerspitzen an den Mund, als könnte sie seine Lippen noch darauf spüren. Heute würde sie ihn nicht abweisen. Sie war bereit für mehr. Sie wollte ihn spüren. Die Muskeln unter der sonnengebräunten Haut streicheln, seinen herben Duft einatmen. Nachdem sie ihm ihr Geheimnis gebeichtet hatte. Wenn er sie dann noch wollte …
Tayanita war sich so sicher, dass er verstehen würde. Hannah wünschte, sie wäre genauso zuversichtlich. Andererseits, warum sollte sie Tayanitas Urteil nicht vertrauen? Schließlich kannte die Cherokee ihren langjährigen Freund gut genug, um ihn
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