Hannahs Entscheidung
Erneut stieg Enttäuschung wie bittere Galle hoch. Sam empfand nichts für sie. Jedenfalls nicht dasselbe, das sie für ihn fühlte. Sie war eine dumme Kuh, anzunehmen, dass er sich ernsthaft für sie interessierte. Vielleicht hatte er sie anziehend gefunden, hatte es genossen, mit ihr zu flirten, sie zu küssen. Doch das war ihr nicht genug. Tayanita hatte sich geirrt. Manchmal waren die Dinge eben doch nicht vorbestimmt. Entschlossen griff sie nach ihrem Gepäck. Es war erst kurz nach fünf. Sam würde mit Sicherheit noch schlafen. Sie hatte keine Lust, ihm noch einmal zu begegnen. Nicht nach gestern Abend. Sam Parker war Geschichte. Sie würde ins Cottage Garden fahren, sich von Tayanita und Sylvia verabschieden und dann endgültig nach Charlotte aufbrechen, um dort ihr neues Leben zu beginnen. Auf Fairview House. So, wie Ellie es ihr angeboten hatte.
Sie legte eine beschützende Hand auf ihren Bauch. »Wir werden es schon schaffen«, murmelte sie. Behutsam schloss sie die Zimmertür. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Treppe und hinunter. Als eine der Stufen ein ächzendes Knarren von sich gab, hielt sie inne und lauschte, doch im Haus blieb es still. Für Deanna hatte sie eine Nachricht vorbereitet, die sie auf den Küchentisch legte. Jackson und McKenna kamen ihr in den Sinn. Es tat ihr leid, zu gehen. Ein paar der Bewohner von Willow Creek würde sie definitiv vermissen. Allerdings nicht Sam Parker. Gewiss nicht!
Ihre Kehle schnürte sich enger, und Hannah befahl sich, keinen weiteren Gedanken mehr an ihn zu verschwenden. Nur das verlässliche Ticken der alten Standuhr im Korridor begleitete sie hinaus, als sie ins Freie trat. Es hatte die ganze Nacht durchgeregnet. Jetzt brachen vereinzelt Sonnenstrahlen durch die gelockerte Wolkendecke. Auf den Blättern von Büschen und Bäumen funkelten kleine Diamanten. Ein Vogelruf erklang. Hannah hob ihren Kopf und entdeckte einen Bussard, der über dem Kiefernwald seine Kreise zog. Überrascht stellte Hannah fest, wie sehr es sie schmerzte, diesen Ort zu verlassen. Unbeabsichtigt knallte sie den Kofferraumdeckel zu. Mist. Sie wollte nicht weinen. Verstohlen sah sie über ihre Schulter zum Haus. Hatte sie sich nicht die ganze Zeit gewünscht, von hier zu verschwinden? Warum nur fühlte es sich an, als läge ein Stein von der Größe eines Felsbrockens in ihrer Brust? Warum schien ihr das Atmen so schwerzufallen? Eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel und lief ihr die Wange hinunter. Sei stark, Hannah Mulligan. Sie biss die Zähne zusammen und schlüpfte hinter das Steuer. Mit einem Blick in den Rückspiegel startete sie den Motor.
»Du wirst deinen Weg gehen, da bin ich mir sicher«, raunte Tayanita in Hannahs Ohr. Als sich die Cherokee von ihr löste, wandte sie sich rasch wieder ihrem Teig zu, doch Hannah hatte das Schimmern in den bernsteinfarbenen Augen gesehen.
»Ich komme wieder«, versprach sie. Vielleicht könnte sie auf dem Weg nach Marietta, wenn sie ihre Sachen aus dem Haus am Valley Drive holte, hier haltmachen. »Ich werde euch alle sehr vermissen, Tayanita.«
»Tayanita, der Kaffee ist alle.« Sylvia streckte ihren blonden Kopf in die Küche. Tayanita wischte sich verstohlen eine Träne von der Wange. »Meine Güte«, brummelte Sylvia. »Ihr tut ja geradezu, als stünde der Weltuntergang bevor. Hannah fährt nach Charlotte, nicht in die Mongolei. Und sie sagte, sie würde wiederkommen.«
»Du hast gelauscht.« Die Brauen zusammenkneifend fuhr sich Tayanita mit einer mehligen Hand über die Stirn.
»Eure Sentimentalitäten waren ja nun wirklich nicht zu überhören.« Kopfschüttelnd stemmte Sylvia die Arme in die Hüften. »Wenn es dich das nächste Mal nach Willow Creek verschlägt, Hannah, werde ich für dich meinen berühmten Pekannuss Pie backen. Du wirst ihn lieben.« Sie grinste. »Ich wünsche dir alles Gute.« Bevor Hannah etwas entgegnen konnte, war sie auch schon wieder verschwunden. »Ich geh rasch hinüber zu Violet’s frischen Kaffee besorgen«, rief sie Tayanita über die Schulter hinweg zu.
»Ihr fällt es auch nicht leicht, dich abreisen zu sehen.« Tayanita hielt mit dem Kneten inne, um Hannah anzublicken. »Ich wünschte, du würdest bleiben.«
Puh. Schon wieder kämpfte Hannah mit den Tränen. Dieser Abschied gestaltete sich komplizierter als gedacht. Tayanitas Worte über Vorbestimmung, Verbundenheit und Schicksal kamen ihr flüchtig in den Sinn. Sam. Nein. Sie schob diesen Gedanken weit von sich. Mit Sam Parker war
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