Hannahs Entscheidung
Kurzzeitig erhellten die Lichter eines vorbeifahrenden Wagens den Raum. »Ich bin schwanger. Ende der elften Woche.« Den letzten Satz flüsterte sie fast. Sie sah auf und begegnete Tayanitas Blick. Im flackernden Kerzenschein funkelten die Bernsteinaugen der Cherokee wie dunkler Waldhonig.
Tayanita griff nach der Zuckerdose, löffelte Zucker in ihren Tee und rührte um. »Ich habe mich gefragt, ob du es mir erzählen würdest.«
Überrascht legte Hannah ihre Hände auf den noch flachen Bauch. »Aber woher wusstest du …?«
»Ich habe es … nennen wir es gesehen«, erklärte Tayanita. »Manchmal kann ich Dinge sehen.« Sie hielt einen Moment inne, neigte den Kopf zur Seite, sodass ihr schweres Haar wie ein dunkler Vorhang über eine Schulter floss. »Dinge, die anderen verborgen sind.«
»Wie bitte?« Beinahe hätte Hannah vergessen, ihren Mund zu schließen.
Tayanita hob ihre Tasse an die Lippen. »Darüber sprechen wir ein anderes Mal. Erzähl mir von deinem Kind.«
Hannah schluckte. Deinem Kind. Das klang so real. Es machte die ganze Angelegenheit wirklich. Sie fühlte Beklemmung aufsteigen. Ihr Brustkorb zog sich zusammen. »Ich weiß nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden …« Mit dem Zeigefinger fuhr sie über den Rand ihrer Tasse. »Shane hat mich immer wieder vertröstet, wenn ich davon sprach, eine Familie gründen zu wollen. Er sei noch nicht so weit, erst wolle er Karriere machen. Sich austoben. Die Musik war stets das Wichtigste in seinem Leben. Ich solle Geduld haben, sagte er immer wieder. Als wir uns kennenlernten, war ich gerade vierundzwanzig geworden. Ich dachte, ich hätte den perfekten Mann gefunden. Er schien selbstbewusst, charmant und witzig. Er brachte mein wohlgeordnetes Leben gehörig durcheinander. Das fand ich spannend und ungemein anziehend.« Sie legte ihre Finger um die Tasse. »Bis dahin bin ich immer mit wohlerzogenen, erfolgreichen Männern ausgegangen. Shane war anders. Mir gefiel dieses Böse-Jungen-Image, das er verkörperte: verwegen und raubeinig, mit einem herausfordernden Glitzern in den Augen. Die ideale Mischung, so dachte ich. Ihn wollte ich, und keinen anderen. Mit ihm wollte ich die Familie gründen, die ich niemals hatte, verstehst du? Ich habe ihn immer unterstützt. Hab immer an ihn geglaubt, auch wenn es mir manchmal schwerfiel.« Sie machte eine kleine Pause. »Shane ist nicht mehr der Mann, in den ich mich einmal verliebt habe«, sagte sie dann leise.
»Vielleicht ist er es niemals gewesen.« Tayanita musterte sie über den Rand ihrer Tasse hinweg.
»Wie meinst du das?«
»Möglicherweise war er von Anfang an nicht der, den du in ihm gesehen hast. Manchmal erwarten wir von den Menschen mehr, als sie zu geben bereit sind oder geben können.«
»Du denkst, ich habe mir etwas vorgemacht?«
»Es ist so eine Sache mit der Liebe. Oft projizieren wir unsere Wünsche und Hoffnungen auf den anderen, die dieser jedoch nicht erfüllen kann. Oder möchte.« Tayanita lächelte, aber es war ein wehmütiges Lächeln. Oder schien es nur so?
»Könnte sein, dass du recht hast. Aber Shane hat sich im Lauf der Zeit verändert.« Noch während sie den Satz zu Ende sprach, versuchte Hannah sich an den Mann zu erinnern, der ihr vor neun Jahren in der Kantine des Charlotte Memorial aus blitzend blauen Augen freche Blicke zugeworfen hatte. War er wirklich nicht der Mensch, für den sie ihn damals gehalten hatte? Hatte sie ihn zu einer anderen Person machen wollen?
»Wie dem auch sei. Einer deiner Wünsche hat sich erfüllt. Das ist etwas unglaublich Wunderbares.« Tayanita nickte ihr aufmunternd zu.
Hannah wusste darauf nichts zu antworten. Sie konnte nichts Wunderbares daran finden. Es war der falsche Zeitpunkt. Sie wollte kein Kind. Nicht jetzt, wo sie ihre Ehe, die ohnehin keine mehr gewesen war, aufgegeben hatte. Nicht jetzt, wo sie selbst nicht wusste, wie es mit ihr weitergehen sollte.
»Weiß Shane von der Schwangerschaft?«
»Nein.« Ihre Antwort kam so entschieden, dass Tsali, die eingerollt zu ihren Füßen schlief, leise in ihrem Hundetraum wimmerte. »Ich möchte nicht, dass er davon erfährt. Es würde lediglich alles verkomplizieren.« Hannah seufzte tief. Mit einem Mal fühlte sie sich von den Geschehnissen der letzten Zeit überfordert.
»Es wird sich alles finden. Hab Vertrauen.«
Vertrauen? In wen oder was? Im Augenblick hatte Hannah eher das Gefühl, dass ihre ganze Welt auseinanderbrach. »Es ist spät, ich sollte lieber nach oben
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