Hannahs Entscheidung
könnte. Sie tigerte durchs Zimmer, knipste noch mehr Lichter an, als könnte die Helligkeit ihre irrationale Angst vertreiben. Und das war sie. Irrational. Oder nicht? Sie blieb am Fenster stehen, sah hinaus auf die dunkle Straße, wo sich die Lichter der Laternen auf dem glänzenden Asphalt spiegelten. Es hatte geregnet. Wahrscheinlich hatte sie geträumt und sich die Geräusche nur eingebildet.
Helen fiel ihr wieder ein. Prompt überkam sie das schlechte Gewissen. Noch immer hatte sie sich nicht bei der Freundin gemeldet. Ob sie es wagen könnte, Helen anzurufen? Sie wusste, dass Helen selten vor Mitternacht schlafen ging. Es dauerte immer, bis sie ihre gesamte Rasselbande ins Bett verfrachtet hatte. Anschließend setzte sie sich meist mit einem Buch und einem Glas eisgekühlten Roséwein vor den Kamin, um abzuschalten. Hannah würde es einfach versuchen. Erleichterung durchflutete sie, als Helen ihren Anruf entgegennahm. »Helen, wie schön! Ich hab schon befürchtet, dass du schläfst. Oh, ich bin so froh, deine Stimme zu hören!«
Helen lachte leise auf. »Was für ein nettes Kompliment. Natürlich bin ich noch wach, Schätzchen. Ich hab mir grad ein zweites Glas eingeschenkt. Jon hat sich übergeben, schon das dritte Mal jetzt, seitdem ich ihn um sieben ins Bett gebracht habe.« Sie seufzte. »Wahrscheinlich lohnt es sich nicht, überhaupt ins Bett zu gehen.«
Es tat so verdammt gut, Helens liebe Stimme zu hören. »Du Arme. Was hat dein Kleiner? Eine Magen-Darm-Grippe?«
»Yep. In der Vorschule fehlt die halbe Waschbärengruppe und zwei von den drei Erzieherinnen sind ebenfalls krank. Scheint eine Seuche zu sein.«
»Oh. Hört sich nicht gut an. Und Mike? Wie geht es ihm?«
»Mike ist stabil. Ich halte die beiden voneinander fern.«
»Gibt es Neuigkeiten?«
»Nein. Wir warten noch immer auf Nachricht. Bislang hat sich noch kein Spender gefunden. Aber sag Hannah, wie geht es dir? Wie ist es, wieder auf Fairview zu sein? Ich hab schon sehnsüchtig auf deinen Anruf gewartet.«
Mit dem Telefon am Ohr sank Hannah auf die Sesselkante. »Ich bin nicht in Charlotte, Helen. Es gab einen dummen Unfall. Mir ist zum Glück nichts passiert, aber nun sitze ich hier in einem Städtchen mit Aussicht auf die wunderhübschen Blue Ridge Mountains fest, während ich auf die Reparatur meines Wagens warte.«
»Ach du liebe Güte. Du schaffst es immer wieder, mich zu überraschen. Dir geht es wirklich gut, oder?«
»Ich bin heil und erfreue mich bester Gesundheit. Es gab nur einen Blechschaden.« Sie dachte an Sam Parkers spöttisches Grinsen. Ein merkwürdiges Flattern in ihrem Bauch setzte ein. Rasch verscheuchte sie den Gedanken an jene unglückselige Begegnung. »Ich wünschte, wir könnten uns sehen, Helen. Ich vermisse dich.«
»Ich dich auch. Es ist schrecklich, dass du jetzt nicht mehr einfach nach der Arbeit rasch vorbeischauen kannst oder wir uns auf einen Kaffee in der Mall treffen können. Was soll ich bloß ohne dich machen?«
Einen Moment lang schwiegen sie, unsicher, was sie sagen sollten. Helen sprach als Erste weiter. »Ist alles in Ordnung, Hannah? Du klingst irgendwie merkwürdig. Vorhin, als ich ans Telefon ging, hatte ich den Eindruck, du würdest gleich zu weinen beginnen.«
Wie gut die Freundin sie kannte! Ob sie jemals wieder einen Menschen finden würde, mit dem sie so fröhlich lachen, dem sie bedingungslos vertrauen könnte? Tayanita könnte so jemand sein, schoss es ihr flüchtig durch den Sinn, doch Tayanita lebte in Willow Creek, während Hannahs Zukunft in Charlotte lag. Sie hatte sich dazu entschlossen, ihr altes Leben aufzugeben – aus guten Gründen wohlgemerkt –, jetzt musste sie mit den Konsequenzen zurechtkommen. »Ich bin okay«, erwiderte sie. »Ich hatte nur heute ein paar Mal das irre Gefühl, dass Shane mich verfolgen würde.« Sie lachte, ein künstliches, gepresstes Lachen. »So ein Unsinn, oder? Du weißt nicht zufällig, wie es ihm geht?« Was sie eigentlich meinte, war, ob Helen ihn in Marietta gesehen hatte, oder ob er sich tatsächlich auf die Suche nach ihr begeben hatte.
»Ich hab keine Ahnung, Schatz. Seit seinem letzten merkwürdigen Anruf hat er sich nicht mehr bei uns gemeldet, tut mir leid.« Helen machte eine kleine Pause. »Hast du dich eigentlich inzwischen entschieden, Hannah?«, fragte sie schließlich vorsichtig. Hannah war sofort klar, worauf sie anspielte.
»Nein. Ich bin noch immer völlig ratlos.«
»Falls du darüber reden möchtest, ich bin
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