Hannahs Entscheidung
neuen Büchern im Gepäck und dem Versprechen, vor ihrer Abfahrt noch einmal bei McKenna vorbeizuschauen. Sie beschloss, sich ein Restaurant zu suchen, in dem sie eine Kleinigkeit essen könnte. Tayanita hatte ihr zwar wiederholt angeboten, die Küche im Cottage Garden zu nutzen, und der Kühlschrank dort war gut gefüllt, aber Hannah sehnte sich nach Gesellschaft. Sie fühlte die Unruhe zurückkehren, die Angespanntheit von heute Früh. Während sie lief, beschlich sie auf einmal ein seltsames Gefühl. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Waren das nicht Schritte hinter ihr? Sie konnte ganz deutlich Blicke in ihrem Rücken spüren. Verstohlen sah sie über ihre Schulter zurück. Und erstarrte. Das Blut gefror in ihren Adern. Ein Mann, gekleidet in Jeansjacke und Baseballkappe, war gerade im Begriff, die Buchhandlung zu betreten. Er hielt den Kopf gesenkt, sodass Hannah sein Gesicht nicht erkennen konnte. Shane. Nur selten verließ er das Haus ohne seine geliebte Kopfbedeckung. Ihr Puls begann zu rasen. Ganz ruhig, Hannah. Tief durchatmen. Shane konnte unmöglich wissen, wo sie sich aufhielt. Oder doch? Noch einmal rief sie sich die abgetragene Jeansjacke, die blaue Baseballkappe in Erinnerung. Hatte der Mann nicht Shanes Größe und seine Statur besessen? Einen winzigen Augenblick setzte ihr Herzschlag aus. Hatte er seine Drohung, sie aufzuspüren, wahr gemacht? Sie legte eine Hand an ihre Kehle. Atmete tief durch. Nein, ausgeschlossen. Das konnte nicht sein. Woher sollte er wissen, dass sie in Willow Creek war? Noch dazu vor wenigen Augenblicken in diesem Buchladen? Shane mied Buchläden wie der Teufel das Weihwasser. Was würde ein Mann, für den Lesen das Durchblättern von einschlägigen Musikmagazinen und Autozeitschriften bedeutete, in einer Buchhandlung suchen? Sie? Beruhige dich, Hannah. Ganz ruhig. Wahrscheinlich waren es nur ihre überreizten Nerven, die ihr einen Streich spielten. Natürlich könnte sie jetzt zurück zu McKenna gehen, um nachzusehen … Nein, sie verwarf den Gedanken. Sie würde sich nicht von dieser unsinnigen Furcht verrückt machen lassen. Sie wandte sich ab, beschleunigte ihren Schritt.
Wenig später saß sie bei Buck’s Place an einem Einzeltisch mit dem Rücken zur Wand in einer dunklen Ecke, von der aus sie das ganze Lokal beobachten konnte. Ihre Portion Pasta all’aglio und der kleine gemischte Salat, den sie dazu bestellt hatte, wollten ihr nicht recht schmecken. Immer wieder irrte ihr nervöser Blick zur Eingangstür, obwohl sie versuchte, sich einzureden, dass der Mann, den sie vor ein paar Minuten gesehen hatte, unmöglich Shane gewesen sein konnte. Nachdem sie eine Weile in ihrem Essen herumgestochert und die Salatblätter auf der Glasplatte neu arrangiert hatte, gab sie auf. Sie rief den schwarz gelockten Kellner, über dessen Brauen winzige Schweißtröpfchen glitzerten, und bat um die Rechnung.
Zurück in ihrem Apartment kuschelte sie sich auf der Couch in eine bunte Baumwolldecke, um in einem ihrer neuen Bücher zu blättern. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Die Worte tanzten vor ihren Augen, die Sätze ergaben keinen Sinn. Frustriert schlug Hannah den Buchdeckel zu. Leise aufseufzend drehte sie sich auf die Seite, schloss die Augen und versuchte, das beängstigende Gefühl, Shane könnte ihr auf den Fersen sein, auszublenden. Warum wollte es ihr nicht gelingen, die beunruhigenden Gedanken zu vertreiben?
Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn ein paar Minuten später – oder waren es Sekunden? – schreckte sie mit wild hämmerndem Herzen hoch. Zu ihrer Verwunderung war es dunkel im Zimmer. Sie rappelte sich auf, um die Stehlampe anzuknipsen, die neben dem Sofa stand, und kniff die Augen gegen das grelle Licht zusammen. Ihre Armbanduhr zeigte fast halb zwölf. Kurz vor Mitternacht. Geisterstunde, hatten Ellie und sie diese Zeit früher immer scherzhaft genannt. Zum Scherzen war Hannah allerdings gerade nicht zumute. Sie musste länger geschlafen haben als angenommen. Was hatte sie geweckt? Sie glaubte, sich an ein Geräusch zu erinnern, ein Knacken und ein Krachen. Sie lauschte angestrengt. Ihre Kopfhaut fing an zu prickeln, doch etwas anderes als das Blut, das in ihren Ohren rauschte, konnte sie nicht hören. Da war nichts. Nur das verlässliche Klacken des Ventilators. Ansonsten – Stille. Hannah warf die Decke beiseite. Sie war jetzt hellwach. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie wünschte, es wäre jemand da, mit dem sie reden
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