Hannahs Entscheidung
weiß.«
Hannah schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Nein, nein. Ich möchte ja gern daran glauben. Es ist nur – sonderbar. Fremd für mich. Ich hab mir über solche Sachen bisher kaum Gedanken gemacht. In meinem Beruf als Krankenschwester und auch später in der Apotheke musste ich immer praktisch und rational vorgehen.« Sie griff über den Tisch hinweg nach Tayanitas Fingern. »Deine Art zu denken macht mich jedoch neugierig. Vielleicht gibt es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als uns Menschen bewusst ist .«
»Die Welt ist voller Zauber. Du musst nur aufmerksam sein und lauschen.« Tayanita drückte Hannahs Hand und wünschte, sie könnte ihrer Freundin etwas von ihrer eigenen Zuversicht abgeben. »Denk nur an das Wunder, das gerade in dir heranwächst«, sagte sie leise und bereute sogleich ihre Worte, als sich Hannahs Brauen zusammenzogen.
»Das kommt mir alles unwirklich vor«, entgegnete Hannah, einen imaginären Punkt irgendwo im Raum fixierend. Als sie sich wieder Tayanita zuwandte, waren ihre Augen dunkel vor Schmerz. »Es ist Shanes Kind, das da in mir heranwächst. Ich fühle nichts mehr für ihn.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Ich schäme mich, es laut zu sagen, aber was, wenn ich dieses Kind nicht lieben kann?«
»Es ist auch dein Kind. Von deinem Fleisch und Blut, Hannah. Könntest du es wirklich aufgeben?«
Hannah sah hinab zu Tsali, die sich inzwischen zu ihren Füßen eingerollt hatte. Einer ihrer Hinterläufe zuckte. Vielleicht jagte sie im Traum einem Schmetterling oder einem Waschbären hinterher. »Ich weiß nicht.« Hannah fuhr sich ratlos durchs Haar. »Ich weiß es einfach nicht. Aber ich weiß, wie es sich anfühlt, in einer unvollkommenen Familie aufzuwachsen. Ich habe darunter gelitten, wenn die Eltern meiner Klassenkameraden zu den Schulfesten erschienen und ich stets mitleidig belächelt wurde. Ich hatte ja nur meine Großmutter.« Sie hob den Blick. »Versteh mich nicht falsch, ich war froh, dass ich bei ihr auf Fairview leben durfte. Aber dennoch …« Sie verstummte, verlor sich offenbar in Erinnerungen. Tsali gab ein leises Wimmern von sich.
»Was ist mit deinen Eltern?«
»Sie kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Beide. Ich war noch sehr jung. Ellie hat mich bei sich aufgenommen.«
»Das tut mir leid.« Auch Tayanita hatte sehr früh ihre Eltern verloren, doch sie war in einer Dorfgemeinschaft mit unzähligen Tanten, Onkeln, Vettern und Cousinen aufgewachsen, die für sie eine einzige große Familie bedeutet hatten. »Man muss einem Kind nicht die perfekte Familie oder das perfekte Heim bieten«, meinte sie behutsam. »Es reicht, wenn du es bedingungslos liebst.«
»Aber genau das ist es ja. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gelingen würde.«
Tayanita leerte ihre Tasse. »Gib dir ein wenig Zeit. Überdenke alles in Ruhe. Und höre auf dein Herz. Ich bin sicher, du wirst am Ende die richtige Entscheidung treffen.«
Hannah stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich wünschte, ich wäre ebenso sicher wie du.«
Erneut sah Tayanita auf ihre Uhr. »Wo Sam nur bleibt? Ist schon eine Weile her, seit wir telefoniert haben.«
»Höre ich da meinen Namen?«
Tayanita drehte sich um, erleichtert, Sam im Rundbogen zu entdecken. »Sam, na endlich. Komm zu uns.«
Sein flüchtiger Blick streifte Hannah, als er näher trat. »Ist die Polizei schon fort?«
»Sie sind vor einer Weile weg.« Tayanita klopfte auf den Stuhl neben sich. »Setz dich. Möchtest du einen Tee?«
Sam rieb sich über das bartschattige Kinn. Er wirkte, als hätte er nicht viel geschlafen. »Nein, danke. Mir ist nicht nach Tee. Es tut mir leid, was hier passiert ist, Tayanita.« In einer liebevollen Geste streichelte er ihre Wange. Ihr wurde warm ums Herz, und einen winzigen Moment lang konnte sie hinter der harten Fassade den alten mitfühlenden Sam aufblitzen sehen. »Wie kann ich helfen? Ist viel Geld gestohlen worden?«
»Ach, das Geld ist nicht von Bedeutung. Wichtig ist nur, dass Hannah nichts passiert ist.« Sie hielt kurz inne, bevor sie ihm die entscheidende Frage stellte. »Sam, wäre es möglich, dass du Hannah für ein, zwei Nächte auf Green Acres beherbergen würdest ?«
Sam fiel förmlich die Kinnlade hinunter. »Wie bitte?«
»Ja. Es wäre mir recht, wenn du Hannah vorübergehend deine Gastfreundschaft anbietest .« Ihr war sehr wohl bewusst, dass Sam ihr in diesem Moment liebend gern den Hals umdrehen würde. Sein finsterer Blick sprach Bände.
»Ist schon in Ordnung.«
Weitere Kostenlose Bücher