Hannahs Entscheidung
übersehen. Ihre Finger krallten sich in das Handtuch über ihrer Brust.
»Guten Morgen«, entgegnete sie so kühl, wie es ihr angesichts der Umstände möglich war. »Ich möchte in mein Zimmer. Wenn Sie also so liebenswürdig wären, mir aus dem Weg zu gehen.« Sie machte einen Schritt zur Seite, doch im selben Moment bewegte er sich ebenfalls, sodass sie kein Stück weiterkam. Ihre Knie wackelten wie Sülze. Sie war wieder sechzehn. Ein unsicheres Mädchen, das sich nach Anerkennung sehnte. Sie fühlte sich zurück in die Highschool katapultiert, wo sie im Flur Brad Jenkins begegnete. Brad, Basketballstar und Schwarm sämtlicher weiblicher Wesen der Myers Park High. Hannah trug ihren neuen Jeansminirock, weswegen sie von ihrer Großmutter ordentlich Schelte bezogen hatte, die das Kleidungsstück als ordinär und unpassend bezeichnete, und eine enge Bluse, die ihre aufblühenden Kurven betonte. Nachdem sie Brad erspäht hatte, hatte sie es gewagt, die obersten Knöpfe zu öffnen. Als Brad sich neben ihr an seinem Schließfach zu schaffen machte, hauchte sie ihm ein kühnes Hallo entgegen. Zum ersten Mal schien er sie wahrzunehmen. Sein Blick blieb an ihrem Ausschnitt hängen. Ein vieldeutiges Lächeln spielte um seine vollen Lippen. Dies war der Beginn einer stürmischen Affäre gewesen, die Hannah in der Schule in den Kreis der beliebtesten Mädchen befördert hatte.
»Bitte, nach Ihnen.« Sams Stimme ließ das Bild wie eine Seifenblase zerplatzen. Er vollführte eine einladende Geste mit der Hand.
Hannah starrte ihn an, noch immer in Gedanken in der Vergangenheit.
»Wollten Sie nicht in Ihr Zimmer? Soll ich Sie bringen?« Die Belustigung in seiner Stimme war unüberhörbar. Dieser Mistkerl! Sie öffnete ihren Mund, um Kontra zu geben, doch er war schneller. »Ich würde mir an Ihrer Stelle lieber etwas überziehen. Sie sehen aus wie eine Katze, die in den Brunnen gefallen ist. So, und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Frühstücken müssen Sie leider allein, aber Sie finden sich zurecht, nicht wahr?« Grinsend wandte er sich ab, um in einem der Zimmer zu verschwinden.
Was in aller Welt war das eben gewesen? Was sollte sie davon halten, dass sie sich beim Anblick von Sam Parkers bloßer Brust wie ein pubertierender Teenager aufführte? Es hätte nur noch gefehlt, dass sie in hysterisches Gekicher ausgebrochen wäre. Hormone. Es mussten ihre Hormone sein, die verrücktspielten. Hieß es nicht, dass schwangere Frauen zuweilen starken Gefühlsschwankungen unterlagen? Sicher war dies die Erklärung für ihre seltsame Verwirrung. Während sie sich in ihrem Zimmer im Spiegel anstarrte, bemühte sie sich vergeblich, das Bild des halb nackten Sam Parker aus ihrem Hirn zu verbannen.
Sie durchsuchte Schränke und Schubladen nach Frühstücksgeschirr. Im Kühlschrank fand sie Toast, gesalzene Butter und ein Glas Holundergelee. Im Regal über der Anrichte eine Dose mit Earl Grey. Vielleicht wäre es besser, heute auf Kaffee zu verzichten. Dieser Morgen hatte bereits Aufregung genug geboten! Wenn sie recht überlegte, war sie sehr dankbar, die sonnendurchflutete Küche für sich allein zu haben. Um nichts in der Welt hätte sie diese gemütliche Atmosphäre genießen können, wäre Sam Parker anwesend. Noch immer trieb es ihr die Schamesröte ins Gesicht, wenn sie an die Begegnung im Flur dachte. Wie konnte es nur sein, dass ihr Herz bei seinem Anblick verräterisch flatterte? Sie konnte doch nicht ernsthaft Schmetterlinge in ihrem Bauch spüren, wenn sie diesem Mann gegenüberstand? Einem Mann, den sie kaum kannte, und der ungefähr so freundlich und entgegenkommend war wie eine zugeklappte Auster. Hier lief offensichtlich etwas schief. Ganz gewaltig schief. Hannah nahm den pfeifenden Kessel vom Herd, um den Teebeutel in ihrer Tasse mit kochendem Wasser zu übergießen.
Nachdem sie ihr Geschirr gespült, abgetrocknet und an seinen angestammten Platz zurückgeräumt hatte, ging sie ihre Sachen packen. Sie war entschlossen, Tayanita zu bitten, sie abzuholen. Keinen Moment länger als nötig würde sie im selben Haus wie Sam Parker verweilen. Wie gut, dass sie ihm seit dem peinlichen Vorfall im Flur nicht mehr über den Weg gelaufen war! Gedankenverloren nahm sie die ersten beiden Treppenstufen auf einmal. Sie rutschte mit der Sohle von der Kante und griff Hilfe suchend nach dem Geländer. Zwei starke Arme umfingen sie von hinten und bewahrten sie vor dem Fallen. Schon wieder Sam. »Was machen Sie denn hier?«,
Weitere Kostenlose Bücher