Hannahs Entscheidung
überrumpelt, ja, ihr diesen Kuss regelrecht aufgezwungen! Was für ein Scheusal, dachte sie kopfschüttelnd, als sie am Reißverschluss zerrte. Weitaus erschreckender war allerdings die Tatsache, dass ihr Körper auf diese Berührung reagiert hatte wie ein überreifer Pfirsich, der gepflückt werden wollte. Sicher, es war schon eine Weile her, dass Shane und sie zärtlich miteinander gewesen waren. Sie hatte in den letzten Wochen und Monaten kein Bedürfnis verspürt, intim mit ihm zu werden. Dennoch, so ausgehungert und verzweifelt war sie nun auch nicht, dass sie sich gleich mit dem Erstbesten einließ. Schon gar nicht mit so einem dreisten Exemplar von Mann wie Sam Parker. Außerdem war sie eine Frau, die sich durchaus beherrschen konnte. Der Verzicht auf Sex fiel ihr nicht schwer, auch wenn sie sich natürlich ab und an danach sehnte, dass sie jemand in den Arm nahm oder ihr liebevoll übers Haar strich.
Sie hob ihre Tasche auf, ließ einen letzten Blick durch das Zimmer schweifen und trat in den Flur. Sie dachte an Deanna, als sie die Treppe hinabstieg. Sie mochte die zierliche blonde Frau und wollte nicht sang- und klanglos verschwinden, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben. Vielleicht könnte sie ihr einen kleinen Gruß hinterlassen? Hannah brachte ihr Gepäck in den Flur und ging ins Wohnzimmer.
Ihr Blick fiel auf Sams Sekretär. Sie setzte sich an den Kirschholztisch und nahm sich ein Blatt vom Blätterstapel. Wo bewahrte Sam seine Stifte auf? Zögerlich zog sie eine Schublade auf. Volltreffer. In einer Plastikbox lagerte ein wildes Durcheinander von Blei- und Buntstiften, Kugelschreibern und Markern. Sie kramte darin und entschied sich für einen blauen Kuli. Als sie die Schublade wieder schließen wollte, fiel ihr ein Stapel mit einem gelben Band zusammengebundener Briefe auf, unter dem die Ecke eines Holzrahmens hervorblitzte. Ihr war klar, sie sollte die Finger davon lassen. Einen flüchtigen Augenblick kämpfte sie mit ihrem Gewissen, doch ihre Neugier siegte und sie konnte der Versuchung nicht widerstehen. Behutsam zog sie das eingerahmte Foto hervor. Es zeigte das Portrait einer jungen hellblonden Frau. Sie war hübsch mit ihren außergewöhnlich klaren Augen und der Unmenge von Sommersprossen über der Nase. Das musste Maggie sein. Sams Maggie. Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Schritte im Flur. Sie wirbelte herum.
»Was machen Sie da?« Sam starrte sie stirnrunzelnd an. Er stürzte auf sie zu, riss ihr grob das Bild aus der Hand, legte es in die Schublade zurück und schloss diese mit Nachdruck. »Wie kommen Sie dazu, in meinen Sachen zu wühlen?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Bitte, ich – ich habe nach einem Stift gesucht …«
»Ach, und bei dieser Gelegenheit durchstöberten Sie mal eben meine Schublade«, unterbrach er sie schneidend.
»So war es nicht. Ich wollte Deanna einen Abschiedsgruß hinterlassen. Auf dem Tisch fand ich keinen Bleistift, deswegen öffnete ich die Lade.« Sie stand auf und holte tief Luft. Sie hätte nicht tun dürfen, wobei er sie erwischt hatte. Es war falsch gewesen. Trotzdem musste er sie nicht derart herunterputzen! »Hören Sie, es tut mir leid.«
Sams Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen. »Lassen Sie Ihre Hände von meinen Dingen. Wenn Sie etwas brauchen, fragen Sie in Zukunft.«
Hannah straffte ihren Rücken. »Das wird nicht nötig sein«, entgegnete sie kalt. »Ich verlasse Green Acres. In Kürze.« Mit dem Daumen deutete sie auf ihre gepackte Reisetasche im Flur. »Es tut mir leid, wenn Sie denken, ich hätte diese Schublade in der Absicht, in Ihren privaten Sachen herumzuschnüffeln, geöffnet, denn so war es nicht. Besten Dank für Ihre Gastfreundschaft.« Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, schob sie sich an ihm vorbei. Sie schnappte sich ihre Tasche und verschwand durch die Tür. Erleichtert atmete sie auf. Nicht eine Sekunde länger hätte sie es mit diesem grässlichen Menschen unter einem Dach ausgehalten. Ihre Hände zitterten, als sie ihr Handy aus der Handtasche fischte, um Tayanita anzurufen.
Zurück im Café wurde sie von Sylvia, die gerade dabei war, einen vor kurzem verlassenen Tisch zu säubern, mit einem Augenzwinkern begrüßt.
»Na, wie war das Leben auf Green Acres, Hannah? Hatten Sie eine gute Zeit?«
Hannah entging weder das Funkeln in Sylvias blauen Augen noch der leise ironische Unterton in ihrer Stimme. »Danke, alles wunderbar«, entgegnete sie freundlich. Sie war einfach nur glücklich,
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