Hannas Entscheidung
Gesicht. Obwohl er seine Beine nicht mehr lässig von sich weg streckte, sondern in aufrechter Haltung, die verschränkten Unterarme auf den Tisch gestützt, auf seinem Stuhl saß, wirkte er unglaublich ruhig, geradezu emotionslos. Er zählte Fakten auf und das Schlimmste daran war, dass er nicht log, noch nicht mal die Fakten verdrehte. Nein, er stellte eine Möglichkeit dar, die Tatsachen zu betrachten und zu bewerten. Schlimmer noch, es war nicht mal die falsche, wenn – ja, wenn es nicht um Marie ginge. »Du machst natürlich keine Fehler in deinem Leben, nicht wahr?«
Er hatte ihres Wissens mindestens zwei Fehler gemacht. Sie erinnerte sich an seine fehlende Objektivität damals und an den Besuch in Rom, als seinetwegen ihre Tarnung aufgeflogen war. Sie wollte ihn treffen, so wie er sie mit jedem seiner Worte getroffen hatte.
»Doch, sogar sehr viele«, gab er ruhig zu.
Damit hatte sie nicht gerechnet. Es nahm ihr den Wind aus den Segeln.
»Hanna«, sprach er sanft ihren Namen aus, »jedes Verbrechen hat einen in sich logischen, vernünftigen Grund für den Menschen, der es verübt. Lassen wir mal die psychisch kranken Menschen außen vor. Deshalb schaffen es Anwälte immer wieder, Verbrecher im Rahmen des Rechtssystems mit anderen Strafen zu belegen, als ich mir es persönlich wünschen würde. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie gegen die Moral, die Gesetze ...«, er haderte kurz mit sich, bevor er fortfuhr, »... die Zehn Gebote verstoßen.«
Hanna ließ sich auf den Stuhl fallen, legte den Kopf auf die Knie und die Hände auf die Ohren, als könnte sie so seine Stimme aus ihren Gedanken drängen. Oh Gott, er traf ihr mit jedem Wort ins Herz.
Ben wollte weiterreden, doch der Oberst legte ihm die Hand auf den Unterarm und drückte ihn leicht. »Es reicht.«
Was dachte Oberst Hartmann? Dass es ihm Spaß machte, Hanna so leiden zu sehen? War es nicht sein Job, alles aus ihr herauszukitzeln, was sie wusste? Solange Hanna Marie schützte, konnten sie nicht hinter die Dinge sehen. Sie brauchten ein klares Bild, mussten wissen, welche Zusammenhänge bestanden, inwieweit Marie ein Teil der Organisation war oder einen Ansatz bot, das System zu knacken. Weshalb hatte Wolff für sie Personenschutz organisiert? Um sie zu beschützen oder um sie zu überwachen? Und wenn es ein Heilmittel für HIV gab, dann war es ein verdammtes weiteres Verbrechen, es nicht der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, nachdem diese Frau so viele moralische Regeln übertreten hatte.
»Nein. Er hat recht.« Hanna setzte sich auf, holte aus ihrem Rucksack ein Papiertaschentuch und schnäuzte sich. »Marie hat gegen alle Regeln verstoßen.«
Die Männer schwiegen, ließen sie sich sammeln. Langsam und mit Pausen erzählte sie alles, was sie damals herausgefunden hatte, gab ihr Wissen und ihre Erkenntnisse aus der Recherchearbeit preis. Die Erklärungen ihrer Schwester nannte sie ohne eine Wertung.
Jedes Verbrechen hat seinen logischen und vernünftigen Grund. Bitterer Geschmack machte sich in ihrem Mund breit. Vergebung flüsterte die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf. Jeden Tag entscheiden wir uns aufs Neue. Was zählt, ist das Heute. Hilf ihr, den richtigen Weg zu wählen. Du bist das Licht in ihrer Dunkelheit .
»Du hast dich mit deiner Schwester getroffen?«, fragte Ben, als sie geendet hatte.
Durstig griff Hanna nach dem Wasser, das Ben ihr brachte. Sie machte nicht gern so viele Worte. Es zehrte an ihren Kräften, aber sie wusste, noch war es nicht vorbei.
»Ja.«
»Was weißt du über Konstantin Wolff?«, hakte der Oberst nach.
»Nur, was mein Onkel mir erzählt hat.«
»Hast du ihn schon mal getroffen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Weshalb ist er hinter dir her?«
Hanna hob den Kopf, fixierte Ben nachdenklich, der die letzte Frage gestellt hatte. »Ist er das?«
Ein hastiger nonverbaler Austausch zwischen den beiden Männern.
»Wie meinst du das?« Fragen mit Gegenfragen beantworten – das alte Spiel. Ben beherrschte es bis zur Perfektion.
»Sag du es mir.«
»Du weißt etwas darüber.«
»Nein.«
»Wolffs Männer haben versucht, dich zu schnappen, nicht mich.«
»Ach ja.« Mit der Kinnspitze machte sie eine Bewegung zu seiner verletzten Seite hin.
Sofort änderte sich seine Haltung. Seine Miene wandelte sich in eine steinerne Maske. Er beugte sich vor und Hanna war froh, über den Tisch zwischen ihnen. »Hat Marie sich dazu geäußert?«
»Nein.«
»Wer dann?«
»Mein Onkel meinte, dass
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