Hannas Entscheidung
»Hallo Johanna.«
»Oberst Hartmann.«
»Du hast uns die letzten Tage auf Trab gehalten.«
»Warum? Sind Ihnen die Optionen ausgegangen?«
Hartmann lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ein schräges Lächeln auf den Lippen. »Optionen?«
»Lassen sie mich mal überlegen. Armin ist auf freien Fuß, Lukas Benner tot. Weshalb wollten Sie, dass ich aussage? Gerechtigkeit?«
»Armin Ziegler ist auf freien Fuß, weil sein Anwalt geschickt das Bild einer bösen Stieftochter manifestierte und ihn als Opfer darstellte. Das wäre ihm nicht gelungen, hätte ein sechzehnjähriges Mädchen mit bandagierten Handgelenken und geschwollenem Gesicht im Zeugenstuhl gesessen«, erwiderte er scharf.
»Nein, aber dann würde dieses Mädchen Ihnen hier auch nicht als Frau gegenübersitzen.«
»Wir hätten dich beschützt.«
»Wie Lukas?«
»Lukas Benner war nicht besser als Armin.«
»Sie machen Unterschiede beim Schutz?«
»Nein. – Ja. Lukas saß im Knast, da ist es schwieriger.«
»Sie haben einem Verbrecher einen Deal angeboten.«
»Manchmal müssen wir kleine Fische opfern, um die großen zu bekommen.«
»Bin ich ein kleiner?«
Ben verfolgte das Gespräch mit wachsendem Interesse. Er kannte seinen Vorgesetzten so viele Jahre, aber er hatte noch nie erlebt, dass jemand ihn so schnell verbal in die Ecke drängte. Fasziniert sah er, dass Hartmann dieselbe Erkenntnis kam. Er schwieg, betrachtete intensiv seine Finger. Er wollte tatsächlich Zeit schinden. Dabei hatte Ben Hanna bereits so weit gehabt, dass sie aktiv das Gespräch begonnen hätte. Wie hatte der Oberst es geschafft, diesen psychologischen Vorteil von jetzt auf gleich zu verspielen?
»Die Kinder waren HIV-negativ«, lenkte Ben das Gespräch brutal in eine andere Richtung und stellte zufrieden fest, dass er Hanna damit vollkommen unvorbereitet traf.
Sie blinzelte, wandte sich ihm zu. Weiße Stellen traten an ihren Fingerknöcheln hervor.
Er ließ ihr keine Gelegenheit sich eine Strategie zu überlegen. »Und du wusstest das. Darum hast du im Netzwerk der Firma Medicare Hinweise gesucht über – hm – lass mich überlegen, wie ich es formuliere ...«
Er machte eine Pause. Nicht zu lange, aber er wollte, dass sie die nächsten Worte genau wahrnahm. Er wartete, beobachtete ihren inneren Kampf, während sie die Augen schloss. Ihr Kiefer war angespannt und ihre verschränkten Finger hatten sich zusammengekrampft.
»... eine pharmazeutische Versuchsstation für die kosteneffektive Entwicklung eines neuen Medikaments. Ein Projekt deiner Schwester. Ein Menschenleben in Afrika ist ja nichts wert, nicht wahr? Auch nicht das eines kleinen Mädchens, wie hieß es doch gleich? Ifeschi? Illegal verscharrt in dem Garten bei der Hütte, weil die standardmäßig durchzuführende Obduktion des Leichnams verhindert werden sollte.«
Hanna sprang auf, dass der Stuhl auf den Boden krachte. Sie versuchte die Tränen wegzublinzeln, wollte ihm wütende Worte entgegenschleudern.
Doch er sah, dass ihr genau diese Worte fehlten. Er hatte ihre Maueren durchbrochen, weil er wusste, was für ein verletzlicher Mensch darunter steckte. Kinder – sie liebte Kinder. Das Bild vom Bahnhof schob sich in seinen Kopf, wie sie sich auf eine Höhe mit dem Kind gehockt hatte. Die kleine Hand hatte sich vertrauensvoll in ihre gelegt. Die Bilder in seinem Kopf wechselten zu einem ernsten afrikanischen Jungen, den Hanna vor so langer Zeit fotografiert hatte, mit dem sie losgezogen war, um Fotos zu machen. Dem sie erlaubt hatte, sie zu fotografieren. – Ein Versuchsobjekt in den Experimenten ihrer Schwester.
Sie wich seinem Blick aus, drehte sich zur Wand, legte den Kopf in den Nacken, verzweifelt bemüht, die Fassung zu wahren.
»Zum Glück für Marie waren da noch andere, die die Menschen in dem afrikanischen Dorf für ihre Experimente benutzten. Sie machte sich nicht allein Gedanken darüber, wie sich die Gewinnspanne optimieren lässt. Nein, ihr Mann Lukas machte fast dasselbe, indem er den Wirkstoff für die Therapiemittel herabsetzte. Was für ein nettes Ehepärchen.«
»So war es nicht«, unterbrach sie mit tränenerstickter Stimme Bens Redefluss.
»Wie war es denn?«
Diese kalte, gnadenlose Stimme, die Beschränkung auf schwarz und weiß. Er brachte die Welt in ihrer Komplexität in eine Formel, die sich einfach ausrechnen ließ, und war selbst nicht in der Lage, zu seinen eigenen Gefühlen zu stehen. Sie wischte sich mit einer wütenden Handbewegung die Tränen aus dem
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