Hannas Entscheidung
sich so in ihr Herz geschlichen hatte? Nie war früher je ein Verlangen oder nur der Gedanke an Sex in ihrem Bewusstsein aufgetaucht. Schon in Afrika hatte er ihre über Jahre aufgebauten Mauern eingerissen. Einfach so. Mit seinen Worten, mit seinem Mitgefühl, mit seiner Beherrschtheit und Kontrolle. Er hatte sich von ihr erobern lassen, aber nein, nein, das stimmte nicht. Seine Worte waren es gewesen: ‚Es tut mir leid, aber ich habe jemandem versprochen, die Hände von dir zu lassen.‘ Er hatte es versprochen und er hielt sich an sein Versprechen. Hatte sie das bewogen, ihre persönliche Grenze zu überschreiten? Nein, da gab es noch etwas, vor dem sie Angst hatte, es sich selbst einzugestehen, weil es sich so völlig außerhalb ihrer Kontrolle befand. Ben besaß eine Anziehungskraft wie ein Magnet, und kam sie ihm zu nahe, schaffte sie es nicht mehr, sich dieser zu entziehen. Reine Physik. Sie grinste über ihren Versuch, dem Gefühl eine wissenschaftliche Richtung zu geben, löste ihre Hand von seiner und richtete sich auf. Sie musste gehen – für ihr eigenes Seelenheil, denn wenn er hatte, was er wollte, würde er sich umdrehen und verschwinden, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Sie fasste an den Kreuzanhänger, den er ihr geschenkt hatte. Ob er auch nur ansatzweise eine Ahnung hatte, wie viel ihr sein Geschenk bedeutete? Es verband sie auf eigenartige Weise mit ihm. Sie runzelte die Stirn. Norwegen – der Helikopter. Sie hatte sich umgedreht und ihn verlassen, ohne ein weiteres Wort. Er war zurückgeblieben. Sein Gesicht erschien ihr unendlich blass in den Kissen. Auf der Haut oberhalb des Pflasters zeigte sich ein breiter roter Streifen, der sich warm anfühlte. Was, wenn er eine Infektion bekam? Sie würde doch noch ein Weilchen bleiben. Nur so lange, bis sie sicher war, dass es ihm besser ging. Hanna zog sich einen Stuhl heran, holte ihr Notizbuch hervor und begann zu zeichnen.
Ben wachte auf. Er hatte so tief und fest geschlafen wie seit Monaten nicht, einen erholsamen Schlaf ohne obskure Albträume. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er Hanna. Gleichzeitig spürte er ihre Hand, die auf seiner lag und sie umschlossen hielt, so wie er eingeschlafen war. Er lächelte, betrachtete die feingliedrige Hand, in der so viel Kraft lag. Ihre Berührung gab ihm Ruhe und spendete Trost. Auf eine seltsame Art fühlte sich die Last, die ihn nach Rom geführt hatte, leichter an. Zwei Männer, für deren Tod er die Verantwortung trug. Aber hier neben ihm lag ein Mensch, der ihm sein Leben verdankte. Ihre Züge waren völlig entspannt, der Mund leicht geöffnet, Speichel tropfte auf das Kissen. Es störte ihn nicht. Es gab ihrem Gesicht ein kindliches Aussehen. Die Augäpfel bewegten sich unter den Lidern, ihre Augenbrauen fuhren kurz über der Nasenwurzel zusammen, und sie runzelte die Stirn. Dann glätteten sich ihre Gesichtszüge wieder, der Mund verzog sich zu einem Lächeln. Er fragte sich, wovon sie träumte. Ihm war noch nie bewusst gewesen, dass ein Mensch beim Träumen seine Mimik veränderte. Es war spannend, Hanna beim Schlafen zu betrachten. Er drehte seine Hand, die unter ihrer lag, um auf seine Uhr zu schauen, und sofort schlossen sich ihre Finger fester um seine Hand, hielten ihn fest. Dieser Reflex löste eine Flut von Emotionen in ihm aus.
Er hatte eine Riesendummheit begangen, einfach in ein Flugzeug zu steigen und nach Rom zu fliegen. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht? Nichts. Rein gar nichts, Ben Wahlstrom, schalt er sich selbst. Wonach suchte er hier? Hatte er gedacht, sie würde ihm sagen: Ja ich war es, die dich nicht ins Licht hat gehen lassen, als du es wolltest, weil es mein Licht ist, dem du folgen sollst? Es hörte sich so lächerlich an. Nein, es war lächerlich. Sein Gehirn hatte ihm einen Streich gespielt, als es nicht wusste, ob es ihn sterben oder leben lassen sollte. So einfach lautete die Erklärung. Es hat nichts, rein gar nichts mit Hanna zu tun. Er hatte seine Mutter gesehen, so deutlich, dass er die Hand nach ihr hätte ausstrecken können, um sie zu berühren. Sie hatte gelächelt und ihn mitnehmen wollen. Aber da legte sich eine andere, schmale, kräftige Hand in seine, die ihn festhielt. Festhielt im Leben, im Schmerz, dem er sich stellen musste, wenn er seiner Mutter nicht folgte. Und als er sich umdrehte, hatte er Hanna gesehen. Hanna, ganz dunkel, nur mit einer schwach leuchtenden Aura um sich herum. Kalt im Gegensatz zu dem hell
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