Hannas Entscheidung
gehandelt, aber seine Schwester half ihm nicht.
»Weißt du, seit sie schwanger ist, hat sie sich verändert.« Als Ben nichts sagte, redete er weiter. »Ich habe noch nie erlebt, dass ihr beide euch streitet oder schweigend auseinandergeht. Sie ist unten am Heulen.«
»Dann soll sie verflucht noch mal Vernunft annehmen.«
»Das kann sie nicht. Ich denke, ich hab bisher überhaupt nicht verstanden, wer diese Julia ist. Und sie wird Patentante von unserem Sohn werden, ob es dir passt oder nicht.«
»Patentante?« Langsam zweifelte Ben genauso an dem Verstand seines Schwagers, wie an dem seiner Schwester. »Sie ist Zeugin in einem Verbrechen. Die Leute haben keine Hemmungen, ein ganzes Dorf dem Erdboden gleichzumachen. Sie haben es geschafft, jemanden zu töten, der im Knast sitzt, und zwar auf eine Art und Weise, dass wir es noch nicht mal nachweisen können. Dass sie überhaupt noch lebt, ist ein Wunder.«
»Okay, dann fangen wir doch genau da an, Ben. Ich habe noch nie erlebt, dass du so emotional reagierst. Ich habe immer deine Ruhe, deine Geduld, deine Nervenstärke bewundert. Mensch Ben, du hast uns damals in Algerien durch ein Minenfeld geführt und uns im wahrsten Sinne des Wortes den Arsch gerettet! Was ist los mit dir?«
Tom war mit der Verarztung der Wunde fertig, und Ben setzte sich auf die Couch, nahm eins der Kissen und zog es an seinen Bauch. Sein Schwager setzte sich gegenüber und hielt seinen Mund. Genau die richtige Taktik, dachte Ben.
»Ich habe bei einem Einsatz zwei Männer verloren.« In seinem Kopf wirbelten die Bilder durcheinander. Er sah Hanna auf der spanischen Treppe, wie sie ihr Eis aß – ein Bild von Ruhe und Zufriedenheit. Dann, wie er sie in seinen Armen trug, während Blut aus ihrer Seite über seinen Arm tropfte. Er spürte die Kälte des Wassers, nachdem er sie in Norwegen aus dem See gezogen hatte. »Es ist meine Schuld, dass sie in dieser Situation ist. Ehrlich, Tom, ich will sie nur beschützen, nicht ihr wehtun.«
»Liebst du sie?«
»Wie kommst du darauf!« Er wusste selbst, dass seine Gegenreaktion zu schnell und zu heftig erfolgte. Doch sein Schwager war klug genug, die Antwort zu akzeptieren.
»Julia –«
»Hanna«, korrigierte Ben ihn automatisch.
Tom nickte. »Hanna ist der Grund, weshalb wir noch mal gewagt haben, es mit einem Kind zu versuchen. Nach der letzten Fehlgeburt dachte ich, Lizzy übersteht es nicht. Weder körperlich noch seelisch. Sie hat sich völlig in sich selbst zurückgezogen und angefangen, mich aus ihrem Leben zu stoßen. Mit niemand hat sie geredet. Euer Vater war fast drei Wochen hier, und selbst eure Tante Gertrud konnte sie nicht aus dem Zustand herausholen. Wir alle haben uns ernsthaft Sorgen um sie gemacht. Die erste Veränderung trat nach der Fotoausstellung ein. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dieses Bild in unserem Schlafzimmer liebe. Als Julia –«
»Hanna!«
»Als sie den ersten Abend bei uns schlief, erzählte Lizzy mir, dass sie es war, die das Foto gemacht hat. Jedenfalls fing sie an, wieder auf sich zu achten, machte die Übungen für ihre Gebärmutter und das Becken.«
Ben erinnerte sich gut daran, wie er sich gewundert hatte, als er sie in Sportklamotten erwischte.
»Ich denke, es war, nachdem Hanna und sie sich unterhalten hatten. Ich kam von einem Kongress zurück und ich gestehe, sie hat mich einfach verführt.« Verlegen rieb sich Tom übers Kinn. »Sie wurde schwanger. Ich hatte panische Angst, aber sie nicht.« Er holte tief Luft. »Ich wollte sogar, dass sie das Kind abtreibt. Heute bin ich froh, dass sie sich nicht hat beirren lassen.«
»Und was hat Hanna damit zu tun?«
»Ich weiß es nicht, ich habe sie vor zwei Tage überhaupt erst kennengelernt. Aber irgendwie ist sie so anders. Sie hat etwas an sich, das ich nicht in Worte fassen kann, was aber da ist.«
Ben starrte seinen Schwager verständnislos an. Dieser stand auf, ging zum Regal und zog einen der Bildbände heraus. Er schlug ihn auf und legte ihn vor Ben. »Hier, in jedem ihrer Bilder kannst du es sehen oder spüren. Du musst nur einfach bereit sein, es zuzulassen.«
»Woher –?«
»Deine Schwester hat die gleichen Bildbände unten! Oh Mann, manchmal seid ihr euch so ähnlich.«
So müde er auch war, der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Mit einem entnervten Knurren gab er auf und ging in die Küche. Er nahm sich einen Krug mit Wasser und ein Glas, setzte sich an den Esstisch und klappte seinen Laptop auf. Wenn er schon nicht
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