Hannas Wahrheit (German Edition)
gab ihr das Gefühl, ständig überwacht zu sein. Dann nahm sie wie immer die öffentlichen Verkehrsmittel zu ihrer Wohnung. Allerdings wechselte sie mehr als einmal kurzfristig die S-Bahn, fuhr erst in eine Richtung, dann wieder in eine andere. Aufmerksam und doch unauffällig beobachtete sie ihre Mitreisenden. Sie bemerkte nichts, was ihr Misstrauen weckte.
Zu Hause warf sie ihre Creme weg, Deo, Zahnpasta und Zahnbürste. Ihre gesamte Reiseapotheke. Nichts blieb von ihren Waschutensilien übrig. Die Klamotten packte sie allesamt in die Waschmaschine und anschließend in den Trockner. Danach ließ sie jedes Kleidungsstück sorgfältig durch die Finger gleiten und prüfte alle Unebenheiten. Nachdem sie sich einen Kaffee gemacht hatte, setzte sie sich in ihren Lieblingsstuhl und ließ ihren Blick durch die Wohnung gleiten. Außer einem Tisch, an dem sie aß, einem weiteren, an dem sie arbeitete, mit zwei großen 27-Zoll-Monitoren, einer davon ein iMac, einer Küchenzeile und einer Couch sowie dem Sessel gab es keine weiteren Möbel in dem Raum. Ihre Wohnung verfügte lediglich über zwei weitere Zimmer, ein Schlafzimmer mit einem Bett und ein Bad. Die Wände waren voller Collagen mit ihren Fotos, die sie immer mal wieder anders arrangierte oder austauschte, je nachdem, an welchem Projekt sie arbeitete. Hanna versuchte, auch ihren Kopf zu säubern, wie sie es mit ihren Reisesachen gemacht hatte. Leider ließen sich die Spuren hier nicht so einfach auslöschen, schon gar nicht die von der letzten Nacht.
Eine Collage weckte ihre Aufmerksamkeit. Obwohl Hanna sich als kreativen Menschen bezeichnete, war sie doch äußerst pingelig, was ihre Wohnung betraf. Es gab kein Chaos, alles hatte seinen Platz. Sie brauchte Klarheit, Ordnung und System um sich herum, damit sie ihren Kopf freihatte für ihre kreative Arbeit. Deshalb ließ sie andere Menschen nur selten in ihre Wohnung. Da sie keine sozialen Kontakte pflegte, war das auch nicht nötig. Aber hier stimmte etwas nicht mit der Collage, die Systematik bei der Anordnung der Bilder war falsch.
Langsam erhob sie sich aus ihrem Sessel. Sie bewegte sich in Richtung des Bildes und blieb wir angewurzelt stehen, als sie erkannte, dass sich ein Foto an einer falschen Position befand. Jemand war in ihrer Wohnung gewesen. Fröstelnd schlang sie ihre Arme um sich. Hier war ihr Zuhause, ihr Zufluchtsort, hier hatte sie sich immer sicher gefühlt. Was war sie doch für ein Idiot.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, musste sie sich für den Tag eine Beschäftigung überlegen, denn an ihre Rechner wagte sie sich nicht heran. Trotz der negativen Meldung ihres Antivirenprogramms war sie inzwischen davon überzeugt, mit dem Speicherchip nicht nur ihre Bilder zurückbekommen zu haben. Sie selbst verstand jedoch zu wenig von der Technik und befürchtete, auch ihre anderen Geräte möglicherweise zu infizieren. Sie musste warten, bis Viktor ihren Rechner am Abend checken würde.
Also ging sie einkaufen und ihre Vorräte an Lebensmitteln auffüllen. Danach sah sie die Post durch. Sie telefonierte mit ihrem Trainer für Nahkampftechnik, Stevie, der ihr umgehend einen Termin einräumen konnte. Stevie trainierte hauptberuflich die BKA-Beamten für den Personenschutz. Für einige wenige, ausgewählte Zivilisten bot er ein persönliches Training an. Den Kontakt zu Stevie verdankte sie dem Polizisten, der sie damals aus dem See gezogen hatte. Wann immer sie in Berlin war, trainierte sie mit ihm.
Er nahm sie hart ran. Rücksichtsvollen Umgang vermied er, schließlich würde ein Angreifer genauso wenig vorsichtig sein. Und sie war wirklich eingerostet.
„Wo sind deine Reflexe, Hanna, oder soll ich dich lieber Hanni nennen?“ Er reizte sie ständig. Sie arbeiteten hart und konzentriert, aber egal wie sehr sie sich anstrengte, am Ende landete sie immer auf dem Boden. Sie schäumte bald vor Wut.
Stevie grinste sie an. „Zwei Wochen, dann bist du wieder fit.“
„So fit, dass ich einem Mistkerl in den Hintern treten kann?“
„Kommt darauf an, Baby, was der Mistkerl drauf hat.“
„Mach mich einfach nur fit.“
Ihre Muskeln schmerzten bald, was sie mit Zufriedenheit erfüllte. Dennoch half es ihr nicht, ihre Frustration wieder in den Griff zu bekommen.
Mit ihrem Laptop im Rucksack streifte Hanna Rosenbaum durch die Stadt. Sie wechselte unregelmäßig die S-Bahnen, rannte im letzten Moment zu einem Bus, machte Fotos von den Menschen, die sie umgaben. Manche Passanten reagierten
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