Hannas Wahrheit (German Edition)
gehörte zu diesem Pool. Für die Ausstellung hatte sie kurzerhand ihre Alaska Reise zwei Wochen verschoben, wodurch es auch zu einer weiteren Verabredung mit Philip Bornstedt gekommen war. Sie war quer durch Deutschland gereist und hatte Frauen, Männer und Kinder fotografiert, die bereit waren, ihr Gesicht der Öffentlichkeit zu präsentieren. Einige Fotos würden verfremdet werden, sodass die Gesichter nicht identifizierbar waren, darauf hatte sie sich mit manchen Betroffenen geeinigt.
In den letzten Tagen hatte sie nur wenig Schlaf bekommen, um die ganze Arbeit für die Ausstellung zu schaffen. Konzentriert begann sie nun, die Augenpartie eines achtjährigen Mädchens hervorzuheben. Sie wollte über einen Kontrast den unglaublichen Ernst in den Augen des Kindes noch eindringlicher gestalten. Dazu fügte sie die Augenpartie in ein Bild von einem Kinderspielplatz ein, auf dem Kinder fröhlich herumtollten. Der Spielplatz stellte das Hauptbild dar, während die Augen des Mädchens wie ein Geist in dem Bild erschienen. Sie stockte, starrte auf das Bild und bekam eine Gänsehaut. Irgendetwas an diesem Foto berührte sie tief. Sie schloss die Augen, lehnte sich zurück, und da waren sie wieder, die Bilder aus Afrika, die Kinder in dem Haus von Rukia Mutai. Das saubere, ordentliche Haus, die sorgfältig gekleideten Kinder. Der tiefe Ernst und die Traurigkeit in ihren Blicken. Der kleine Junge, der aufmerksam ihren Bewegungen folgte, als sie ihm die Funktion der Kamera erklärte. Sie biss sich auf die Unterlippe, öffnete die Augen und suchte auf ihrem Laufwerk die Ordner von ihrem Auftrag in Nigeria.
Es dauerte nicht lange, da liefen die Bilder in einer langsamen Diashow über ihren Bildschirm. Kinder, die im Sand spielten, fröhlich und doch verhalten, vorsichtig im Umgang miteinander. Sie hielt die Diashow an, als sie wieder bei einem Bild, das sie in dem Haus aufgenommen hatte, angekommen war. Rukia Mutai mit ihrem Bruder Ochuko. Sie betrachtete das ernste, knochige Gesicht einer Frau, die gerade mal zehn Jahre älter gewesen war als sie selbst. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Haut spannte über den Knochen. Ganz anders als das runde, volle Gesicht von Ochuko. Sie versuchte, sich an die Gespräche mit ihm zu erinnern, wie seine Worte genau gelautet hatten, als er den afrikanischen Kontinent als einen Körper mit offenen Wunden und Geschwüren bezeichnet hatte.
Sie unterbrach ihre Arbeit und öffnete ihren Browser. Als Erstes startete sie mit den Informationen der verschiedenen Organisationen, die sich mit dem Thema Aids beschäftigten. Sie scrollte durch die Statistiken der HIV-Infizierungen in Nigeria. Obwohl Nigeria nicht mehr zu den am stärksten betroffenen Regionen von Afrika gehörte, waren die Zahlen erschreckend. 3,6 Prozent der Bevölkerung waren 2009 von HIV/Aids betroffen, das entsprach einer Zahl von 3,3 Millionen Menschen, von denen 1,7 Millionen Frauen und 360000 Kinder waren. Sie las, dass viele der Kinder bereits bei der Geburt infiziert und meistens nicht älter als fünf Jahre wurden.
Sei lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte, sich die Menge an Menschen vorzustellen. Für sie war es eine unglaubliche Zahl, und doch rangierte Nigeria inzwischen „nur“ noch an siebzehnter Stelle in der Statistik. Sie öffnete wieder die Augen, suchte eine neue Quelle und las, dass Kinder die Schule abbrechen mussten, um ihre erkrankten Eltern zu pflegen. Die Anzahl der Waisenkinder aufgrund von Aids ließ die normale Versorgung durch Familienangehörige zusammenbrechen. Sie runzelte die Stirn, erinnerte sich an die Worte von ihrer Schwester, als sie ihr von dem Projekt der Stiftung in Afrika erzählte hatte. Medicares. Sie zögerte, dann gab sie einen neuen Suchbegriff ein: „Medicares + Stiftung“. Das Ergebnis wurde ihr in einer Liste angezeigt.
Als ihr Telefon klingelte, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie hob ab.
„Ich habe von deiner Schwester gehört, dass du wieder im Land bist.“
Das warme Gefühl, das sich bei seiner Stimme in ihr ausbreitete, überraschte sie selbst. Philip war ein netter Kerl, und sie mochte seine Gesellschaft. Sie dachte daran, was ihr Viktor vor ein paar Tagen an den Kopf geworfen hatte. So war es ja nicht, sie machte ihm keine Hoffnung. Anders sah es da mit ihrer Mutter und Marie aus. Ständig redete Silvia in ihrer Gegenwart über das, was Philip machte, wie nett er sei und dass er der Lieblingsneffe von ihrer Freundin war. Rutschte ihr mal
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