Hannas Wahrheit (German Edition)
bisschen was abnehmen.“
„Soll ich dich trainieren?“
„Nein, auf keinen Fall.“
„Ich könnte dir ein paar Tipps geben.“
„Nein danke, von Sportfanatikern nehme ich grundsätzlich keine Tipps an.“
Lisa schaltete den Fernseher aus, auf dem drei attraktive Frauen in einer wunderschönen Landschaft am Strand auf ihren Matten zu sehen waren. Sie setzte sich auf ihr Sofa.
„Also, warum bist du hier, obwohl du nicht hier bist?“
Das mochte er an seiner Schwester. Sie stellte keine dummen Fragen, sondern kam immer gleich auf den Punkt. Er setzte sich auf das andere Sofa und fuhr sich verlegen durch sein Haar. Er wusste nicht genau, wie er anfangen sollte.
„Spuck’s einfach aus, egal was es ist, du weißt, dass ich alles wieder vergessen werde, sobald du aus der Tür raus bist.“
„Stell dir vor, du bist sechzehn Jahre alt und wirst entführt“, begann er und erzählte dann alles, was Hanna Rosenbaum damals passiert war. Die Haltung seiner Schwester änderte sich im Laufe der Geschichte. Er kannte das von sich, wenn er Distanz einnahm, damit er einen Fall betrachten konnte, ohne sich von Emotionen leiten zu lassen. Lisa war ihm da sehr ähnlich. Sie war lange Jahre bei Ärzte ohne Grenzen gewesen. Dort hatte sie auch ihren Mann kennengelernt, Dr. Tom Jung. Erst vor drei Jahren hatten sie die Gemeinschaftspraxis für innere Medizin und Chirurgie aufgemacht. Damals, als sie heirateten und daran dachten, eine Familie zu gründen.
Lisa wusste, dass sie mit Mitleid niemandem helfen konnte. Als Ärztin hatte sie grausamste Verletzungen behandelt. Eine Zeit lang war sie in Ruanda gewesen, in einer Klinik für Frauen, die im Krieg vergewaltigt worden waren. Es gab nichts, was sie nicht kannte. Das war der Grund gewesen, weshalb er heute bei ihr war. Er musste verstehen, was eine solche Geschichte mit einer Frau machte.
„Was passiert mit einer Frau psychisch, wenn ihr so etwas passiert?“ Er rutschte auf dem Sofa nach vorne, senkte den Blick. Im Nachhinein konnte er überhaupt nicht verstehen, dass Hanna in Nairobi mit ihm geschlafen hatte.
„Wie lange war sie in der Gewalt der Entführer?“
„Fünf Tage.“
„Haben die Männer sie von Anfang an vergewaltigt?“
Er schüttelte den Kopf.
„Wie lange?“
„Zwei Tage, nachdem sie einen Fluchtversuch unternommen und dem einen Kerl dabei das Nasenbein gebrochen hatte. Sie meinten, sie müssten ihr eine Lektion erteilen, so hat sie es der Polizistin erzählt.“
„Sie haben sie ans Bett gefesselt?“
„Ja, sowohl die Hände als auch die Beine.“
„Hatte sie vorher schon mal Geschlechtsverkehr?“
Er schüttelte stumm den Kopf. Sie schwiegen beide für einen Augenblick.
Lisa fing sich als Erste wieder. „Wie schlimm waren ihre inneren Verletzungen? Betraf es nur die Vagina oder auch …“
Er hob abwehrend die Hände. „Ich weiß es nicht. Die medizinischen Berichte kenne ich nicht. Spielt das noch eine Rolle?“
Lisa seufzte. „In gewisser Weise schon. Die Art der Verletzungen mit Spätfolgen spielen auch für die Psyche eine Rolle, z.B. wenn du inkontinent bist oder …“
„Sie kann Sex haben“, unterbrach er die Ausführungen seiner Schwester.
Lisa klappte den Mund auf und starrte ihn an. „Du hast mit ihr geschlafen?“
Er schwieg und hätte sich am liebsten selbst für seine vorschnellen Worte geohrfeigt.
„Ich dachte, du wärst aus beruflichen Gründen hier?“, hakte Lisa nach.
„Bin ich auch.“ Er hob den Kopf, schob das Kinn vor und sah Lisa herausfordernd an. Sie lenkte ein.
„Okay, sie ist also körperlich so weit in Ordnung, dass sie Sex haben kann. Bekommt sie auch einen Orgasmus?“ Statt zu antworten, starrte er seine Schwester wortlos an. „Du willst eine ärztliche Meinung von mir hören“, erklärte sie ruhig.
„Nein, ich will wissen, welche Erfahrungen du mit vergewaltigten Frauen gemacht hast. Wie gehen sie damit um? Wie leben sie mit so etwas weiter? Welche psychischen Störungen können sie entwickeln? All das eben.“
Er fuhr sich erneut durch die Haare. Seine Schwester sah ihn an. In ihrem Blick sah er eine gewisse Wut, ein Wut, weil er ein Mann war. Er hatte es schon einmal bei ihr erlebt, damals als er sie in Ruanda besuchte.
„Was denkst du, wie eine Frau damit umgeht?“
„Ich habe keine Ahnung“, flüsterte er leise.
Lisa seufzte. Sie ließ sich für ihre nächsten Worte Zeit. „Ich kann das pauschal nicht beantworten. Manche Frauen werden vergewaltigt, sie schämen sich und
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