Hannas Wahrheit (German Edition)
lief der Schweiß auch an seinem Körper herunter. Sie umkreisten sich, suchten nach einer Schwäche in der Abwehr des anderen und schlugen gnadenlos zu. Er konnte es nicht glauben, dass Hanna ihm standhielt. Zwar war Nahkampftechnik nicht seine Stärke, aber dass er gegenüber ihr keinen Boden gutmachen konnte, verunsicherte ihn. Unermüdlich attackierte sie ihn, nicht mehr so wild wie zu Anfang, dafür wesentlich gefährlicher. Die Emotionalität in der ersten Phase des Kampfes war kalter Konzentration gewichen.
Als ein Schweißtropfen sich den Weg von ihrem Hals zwischen ihre Brüste suchte, war er einen Augenblick abgelenkt. Mit einem Tritt von hinten in die Kniekehlen brachte sie ihn sofort zu Fall, und ehe er es sich versah, fixiert sie ihn am Boden. Er gab kurz seinen Gegendruck auf und verschaffte sich Luft, um sich aus der gefährlichen Lage zu befreien, doch dann sah er in ihre Augen und verharrte. Die Türklingel zerriss die entstandene Stille.
Erst das dritte Klingeln löste Hanna aus ihrem Entsetzen. War sie wirklich bereit gewesen, einem Menschen das Leben zu nehmen? Schwerfällig erhob sie sich und ging zur Tür.
„Alles in Ordnung bei Ihnen, Hanna?“ Gleichzeitig mit ihren Worten riss Frau Mendel die Augen auf und starrte sie groß an. „Soll ich die Polizei rufen?“, flüsterte sie heiser und drehte sich gleichzeitig schon halb um.
Hanna verzog den Mund zu einem verzerrten Lächeln. „Nein.“
„Aber …“
„Alles in Ordnung.“
„Aber …“
„Ehrlich.“
„Aber …“
„Wirklich kein Grund zur Sorge, Frau Mendel, wir trainieren nur ein bisschen. Es tut uns leid, wenn wir Sie mit unserem Lärm erschreckt haben.“
Mit einem entwaffnenden Lächeln im Gesicht, schweißüberströmt, eine Prellung am Kinn, die anfing, sich auffällig zu wölben, stand Ben Wahlstrom jetzt auch im Flur. Der Wechsel in der Mimik von Frau Mendel war faszinierend. Der entsetzte Ausdruck wechselte zu Verblüffung, der Mund schloss sich, verzog sich dann zu einem Lächeln, und eine leichte Röte schlich sich auf ihre Wangen.
„Sie, junger Mann? Aber Sie haben ja gar nicht gesagt, dass Sie Frau Rosenbaum kennen.“
„Nein, stimmt. Wir trainieren zusammen im Verein bei …“, er wendete sich fragend an Hanna.
„Stevie.“
Stevie hieß der Typ also, das würde er als Nächstes prüfen lassen. Hanna war in einer profimäßigen Nahkampftechnik unterrichtet worden. „Richtig, Stevie, und weil ich noch so hinterherhänge, habe ich Hanna gefragt, ob sie mir ein wenig Nachhilfe gibt. Hörte sich bestimmt ganz schön wild an.“ Er grinste Frau Mendel mit einem treuen Blick an und breitete entwaffnend die Hände aus.
Die Nachbarin legte den Kopf schief, ließ ihren Blick zwischen den beiden hin- und herschweifen. „Sieht auch beängstigend aus.“
Er lachte laut auf. „Ja, ein paar Macken haben wir abbekommen, ich glaube, wir hören besser auf, oder, Hanna?“ Ein strahlender Blick traf Hanna, die finster nickte. Sie versuchte, ihr Gesicht zu entspannen, bevor sie sich erneut der Nachbarin zuwandte. Es gab keinen Grund, die arme alte Frau zu beunruhigen.
Frau Mendel neigte sich vor und warf Ben Wahlstrom, der sich wie verlegen mit der Hand durch sein Haar fuhr, einen kurzen Blick zu. „Wissen Sie, Hanna, mit jungen Männern müssen Sie anders umgehen, die können Sie nicht einfach verhauen, sonst bekommen Sie nie einen ab“, flüsterte sie Hanna ins Ohr, die sich automatisch nach vorne gebeugt hatte. Ein erneuter Blick zu dem Mann, um sicherzugehen, dass er ihnen nicht lauschte. „Das ist ein sehr netter, höflicher, junger Mann. Auf so etwas trifft man heute selten.“
Sie kniff Hanna ein Auge, warf Ben Wahlstrom ein charmantes Lächeln zu und verschwand in ihrer eigenen Wohnung.
Hanna hielt die Tür demonstrativ auf und sah Ben Wahlstrom auffordernd an. Der reagierte nicht auf den Rauswurf. Stattdessen steuerte er zielsicher ihr Badezimmer an.
„Ich glaube, ich muss erst mal duschen.“
Hanna starrte ihm hinterher, langsam drückte sie die Tür mit einem fassungslosen Seufzer zu und überlegte, wie sie ihren unliebsamen Eindringling wieder loswerden konnte. Ohne ihn gleich ins Jenseits befördern zu müssen.
Ben Wahlstrom starrte im Badezimmerspiegel sein lädiertes Gesicht an, während er darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde. Für einen Moment hatte er gedacht, sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Er, der Profi, ausgebildet und trainiert. Das heiße Wasser tat seinen
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