Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Dorf zurück und nahm ihn beiseite.
Der Freitagsmarkt fand im fünfzehn Kilometer entfernten Villiers statt. Der Metzger Paul Momund trug gerade ein geschlachtetes Lamm zu seinem Stand, als der Graf, grau und übernächtigt, aus seinem Wagen stieg. Robert Lecter begann mit seinem Stock auf Momund einzuschlagen und traf ihn an der Oberlippe.
»Du mieses Stück Dreck! Wie kannst du es wagen, meine Frau zu beleidigen!«
Der Metzger ließ das Lamm fallen und versetzte dem Grafen einen heftigen Stoß, sodass dieser gegen den Ladentisch prallte. Doch Graf Lecter fing sich wieder und wollte mit seinem Stock erneut auf Paul Momund losgehen. Mitten in der Bewegung hielt er jedoch plötzlich mit verdutztem Gesicht inne. Er griff sich mit der Hand an seine Brust und fiel vor dem Metzgerstand mit dem Gesicht nach unten zu Boden.
20
Angewidert vom Jaulen und Blöken der Kirchenlieder und dem unsinnigen Geleier des Begräbnisses, stand Hannibal Lecter, dreizehn Jahre alt und nun der Letzte seines Geschlechts, mit Lady Murasaki und Chiyoh am Ausgang der Kirche und ließ sich von den Trauergästen kondolieren. Wegen des in der Nachkriegszeit weit verbreiteten Ressentiments gegen Kopftücher nahmen die Frauen beim Verlassen der Kirche alle ihre Kopfbedeckungen ab.
Lady Murasaki nahm die Beileidsbekundungen entgegen und antwortete gefasst und ganz so, wie es sich gehörte. Hannibal, der spürte, wie mitgenommen sie war, wuchs über sich selbst hinaus. Er ertappte sich dabei, wie er zu reden begann, damit sie nicht sprechen musste. Bald war seine wiedererlangte Stimme jedoch nur noch ein heiseres Krächzen.
Falls es Lady Murasaki überraschte, ihn sprechen zu hören, zeigte sie es nicht, aber sie ergriff seine Hand und drückte sie fest, während sie die andere Hand dem nächsten Kondolierenden in der Reihe reichte.
Eine Abordnung der Presse aus Paris und einige Nachrichtenagenturen hatten sich eingefunden, um über das Ableben des bedeutenden Künstlers Robert Lecter zu berichten, der sie zu seinen Lebzeiten bewusst gemieden hatte. Lady Murasaki hatte ihnen nichts zu sagen.
Am Nachmittag dieses endlosen Tages kamen der Anwalt des Grafen und ein Herr vom Finanzamt ins Château. Lady Murasaki servierte ihnen Tee.
»Ich bedaure zutiefst, Sie in Ihrer Trauer behelligen zu müssen, Madame«, erklärte der Finanzbeamte. »Seien Sie versichert, dass Sie ausreichend Zeit haben werden, geeignete Schritte zu veranlassen, bevor das Château , damit Sie für die Erbschaftssteuer aufkommen können, versteigert werden muss. Ich wünschte, ich könnte die von Ihnen gestellten Sicherheiten für die Erbschaftssteuer akzeptieren, aber nachdem Ihr Aufenthaltsrecht in Frankreich von nun an infrage gestellt sein wird, ist mir das leider nicht möglich.«
Endlich wurde es Nacht. Hannibal begleitete Lady Murasaki bis vor die Tür ihres Schlafzimmers. Chiyoh hatte ein Feldbett darin aufgestellt, um bei ihr zu schlafen.
Hannibal lag in seinem Zimmer lange wach, und als der Schlaf kam, kamen auch die Träume.
Das mit Blut und Federn verschmierte Gesicht des Blauäugigen, das sich in das Gesicht des Metzgers Momund verwandelt und dann wieder zurück...
Hannibal wachte im Dunkeln auf, aber es endete nicht. Die Gesichter waren wie Hologramme an der Decke. Jetzt, wo er sprechen konnte, schrie er nicht mehr.
Er stand auf und stieg leise die Treppe zum Atelier des Grafen hinauf. Hannibal zündete die Leuchter zu beiden Seiten seiner Staffelei an. Nachdem ihr Schöpfer von ihnen gegangen war, hatten die Porträts an den Wänden, vollendete und halb fertige, an Präsenz gewonnen. Hannibal spürte, wie sie dem Geist des Grafen zustrebten, als könnten sie ihn noch atmend antreffen.
Die gesäuberten Pinsel seines Onkels standen in einem Becher, seine Kreiden und Kohlen lagen in Ablagekästen. Das Gemälde von Lady Murasaki war verschwunden, auch ihren Kimono hatte sie vom Haken genommen.
Hannibal begann mit schwungvollen Bewegungen zu malen, wie ihm der Graf geraten hatte. Er versuchte loszulassen und zog dicke diagonale Striche über das Zeitungspapier, wilde Farbfahrer. Es funktionierte nicht. Gegen Tagesanbruch hörte er auf, es erzwingen zu wollen; er hörte auf, sich anzustrengen, und betrachtete nur, was seine Hand ihm enthüllt hatte.
21
Hannibal saß in einem kleinen Gehölz am Fluss auf einem Baumstumpf, zupfte die Koto und beobachtete eine Spinne, die ihr Netz spann. Es war eine prächtige gelb-schwarze Stachelspinne, die unermüdlich
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