Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Blick auf ein Gesicht, das er kannte. Kein Geringerer als der staatliche Henker Anatole Tourneau, besser bekannt als ›Monsieur Paris‹, war dabei, die Guillotine aufzubauen, die er aus einem Lagerschuppen in der Rue de la Tombe-Issoire ins Gefängnis gebracht hatte. Er spielte mit den Rädchen des Fallbeils, des mouton, die verhindern sollten, dass die Klinge klemmte, wenn sie nach unten sauste.
Monsieur Paris war Perfektionist. Man musste ihm zugute halten, dass er den oberen Teil der Konstruktion immer zudeckte, sodass der zum Tode Verurteilte das Fallbeil nicht sah.
Louis Ferrat war in der Todeszelle, die sich im ersten Trakt von La Santé befand und durch einen Gang von den anderen Zellen des Blocks im ersten Stock abgetrennt war. Der Lärm des überfüllten Gefängnisses drang in einem Schwall aus Brabbeln und Schreien und Gitterstäbeklirren in seine Zelle, aber trotzdem konnte er die Hammerschläge von Monsieur Paris hören, der einen Stock tiefer die Guillotine zusammenbaute.
Louis Ferrat war ein zierlicher Mann mit dunklem Haar, das erst vor Kurzem an seinem Nacken und Hinterkopf geschoren worden war. Das Haar oben auf seinem Kopf hatte man lang gelassen, damit Monsieur Paris’ Assistent besser zugreifen konnte, als es Ferrats kleine Ohren zugelassen hätten.
Ferrat saß in einem grauen Long John auf seiner Pritsche und rieb zwischen Daumen und Fingern das kleine Kreuz, das an einer Kette um seinen Hals hing. Sein Hemd und seine Hose waren sorgfältig über einen Stuhl drapiert, so als hätte dort jemand gesessen und sich aus den Kleidungsstücken heraus in Luft aufgelöst. Die Schuhe standen nebeneinander unter den Hosenaufschlägen. Die Kleidung lehnte sich auf dem Stuhl in der anatomisch richtigen Haltung zurück.
Ferrat hörte Hannibal zwar kommen, aber er schaute nicht auf.
»Einen schönen guten Abend, Monsieur Louis Ferrat«, sagte Hannibal durch das Gitter der Zelle.
»Monsieur Ferrat hat sich aus seiner Zelle entfernt«, erwiderte Ferrat. »Ich vertrete ihn. Was wollen Sie von ihm?«
Ohne die Augen zu bewegen, betrachtete Hannibal die Kleidungsstücke auf dem Stuhl. »Ich möchte ihn bitten, seinen Körper für wissenschaftliche Zwecke dem medizinischen Institut der Universität zu vermachen. Er wird mit allem ihm gebührenden Respekt behandelt werden.«
Ferrat stand von der Pritsche auf und kam zu Hannibal ans Gitter. »Sie werden seinen Körper doch sowieso wegschaffen. Ihn wegschleifen.«
»Ich darf seinen Körper ohne seine ausdrückliche Erlaubnis nicht nehmen und würde so etwas auch nie tun. Und schon gar nicht würde ich ihn wegschleifen.«
»Ah, da kommt ja mein Mandant gerade«, sagte Ferrat. Er wandte sich von Hannibal ab und beriet sich leise mit den Kleidungsstücken, als hätten sie gerade die Zelle betreten und auf dem Stuhl Platz genommen. Dann kehrte er wieder ans Gitter zurück.
»Er möchte wissen, warum er Ihnen seinen Körper vermachen sollte.«
»Seine Angehörigen würden fünfzehntausend Francs erhalten.«
Ferrat wandte sich den Kleidern auf dem Stuhl zu und dann wieder Hannibal. »Monsieur Ferrat sagt: ›Meine Verwandten können mich am Arsch lecken. Wenn sie meinen, ihre Hand aufhalten zu müssen, scheiße ich hinein.‹« Und leiser fuhr er fort: »Sie müssen seine Ausdrucksweise entschuldigen – er ist mit den Nerven verständlicherweise am Ende, und der Ernst der Angelegenheit erfordert von mir, seine Aussagen wortgetreu wiederzugeben.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Hannibal. »Glauben Sie, er möchte das Honorar vielleicht dafür verwendet wissen, seinen Angehörigen Unannehmlichkeiten zu bereiten? Wäre das vielleicht eher in seinem Sinn, Monsieur ...?«
»Sie können mich Louis nennen – Monsieur Ferrat und ich haben den gleichen Vornamen. Nein. Ich glaube, was das angeht, ist er eisern. Monsieur Ferrat steht im Moment im wahrsten Sinn des Wortes etwas außerhalb seiner selbst. Er sagt, er hat sehr wenig Einfluss auf sich selbst.«
»Verstehe. Da ist er nicht der Einzige.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie irgendetwas verstehen wollen, Sie sind doch noch ein halbes Kind, ein Schuljunge.«
»Dann könnten Sie mir ja vielleicht helfen. Jeder Medizinstudent schreibt dem Spender, mit dem er zu tun hat, einen persönlichen Dankesbrief. Nachdem Sie Monsieur Ferrat so gut kennen, würden Sie mir freundlicherweise vielleicht helfen, einen solchen Dankesbrief an ihn aufzusetzen? Nur für den Fall, dass er sich doch noch zu meinen
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