Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
seine Stimme und fasste sich am Kragen seines Long John, als ergriffe er während eines Plädoyers den Aufschlag seiner Weste. »Ich bin ermächtigt, auch mit St. Pierre in seinem Auftrag zu verhandeln.« Dann wieder dicht am Gitter und plötzlich ganz ruhig: »Drei Tage noch, und der arme Ferrat wird tot sein, und ich werde Trauer tragen und einen Mandanten weniger haben. Sie sind doch vom Fach. Glauben Sie, es wird wehtun? Ich meine, wird Monsieur Ferrat noch etwas merken, wenn sie ...«
»Auf gar keinen Fall. Der wirklich unangenehme Teil ist jetzt. Die Zeit davor. Aber wenn es dann so weit ist, ist es nicht mehr schlimm. Nicht einmal einen Augenblick lang.«
Hannibal hatte sich bereits zum Gehen gewandt, als ihm Ferrat hinterherrief. Er kehrte wieder ans Gitter zurück.
»Und die Studenten werden sich nicht über ihn lustig machen, über seinen ... ? Sie wissen schon.«
»Ganz bestimmt nicht. Das Untersuchungsobjekt wird immer zugedeckt. Zu sehen ist ausschließlich der Körperbereich, der tatsächlich zu Forschungszwecken untersucht wird.«
»Auch dann nicht, wenn er, wie soll ich sagen, etwas ... ungewöhnlich wäre?«
»In welcher Hinsicht?«
»Na ja, wenn er ein etwas ... unterentwickeltes Geschlechtsteil hätte?«
»Das ist keineswegs so ungewöhnlich, wie Sie vielleicht denken, und überhaupt kein Grund, irgendwelche dummen Witze zu machen«, versicherte ihm Hannibal.
Er wäre also ein Kandidat für das anatomische Museum, wo die Spender nicht namentlich genannt werden.
Das Dröhnen des Henkershammers machte sich in Gestalt eines Zuckens in Louis Ferrats Augenwinkel bemerkbar. Inzwischen saß er wieder auf seiner Pritsche und hatte die Hand am Ärmel seines Gefährten, der Kleider. Hannibal konnte förmlich sehen, wie er sich den Zusammenbau der Guillotine vorstellte, das Aufstellen der senkrechten Führungen, die Schneide des Fallbeils, die durch ein der Länge nach geschlitztes Stück Gartenschlauch geschützt wurde, darunter der Auffangbehälter.
Wie aus heiterem Himmel schoss Hannibal ein Bild aus seiner Erinnerung durch den Kopf. Innerlich zusammenzuckend, sah er, was der Auffangbehälter war. Es war eine Kinderbadewanne. Wie ein herabsausendes Fallbeil schnitt Hannibals Verstand den Gedanken ab, und in der danach eintretenden Stille war ihm Ferrats Todesangst plötzlich genauso vertraut wie die Adern im Gesicht des Mannes, wie die Arterien in seinem eigenen Körper.
»Ich werde ihm das Laudanum auf jeden Fall besorgen«, sagte Hannibal zu Louis Ferrat. Wenn das nicht klappte, konnte er immer noch in einem dunklen Hauseingang einen Klumpen Opium kaufen,
»Geben Sie mir das Einwilligungsschreiben. Sie können es dann mitnehmen, wenn Sie den Stoff bringen.«
Hannibal sah Louis Ferrat an, betrachtete sein Gesicht so aufmerksam, wie er seinen Hals studiert hatte, roch die Angst, die von ihm ausströmte. »Da wäre noch etwas, was Ihr Mandant bedenken sollte, Louis. Die ganzen Kriege, das ganze Leid und der Schmerz, die in den Jahrhunderten vor seiner Geburt, vor seinem Leben auf der Welt waren, wie sehr hat ihn das alles belastet?«
»Überhaupt nicht.«
»Warum sollte ihn dann belasten, was nach seinem Leben passieren könnte? Es wird nichts sein als ungestörter, traumloser Schlaf. Der einzige Unterschied ist, dass er nicht wieder hier aufwachen wird.«
37
Die Originaldruckplatten von Vesalius’ großem Anatomie-Atlas De humani corporis fabrica wurden im Zweiten Weltkrieg in München zerstört. Für Professor Dumas waren diese Stiche heilige Reliquien, sodass er in seinem Kummer und Ärger über den Verlust beschloss, einen neuen anatomischen Atlas zusammenzustellen. Es sollte der beste in der langen Reihe von Atlanten werden, die dem von Vesalius in den vierhundert Jahren seit dem Erscheinen von De humani corporis fabrica gefolgt waren.
Dumas fand, dass bei der Darstellung der menschlichen Anatomie Zeichnungen der Fotografie überlegen und für die eindeutige Bestimmung unklarer Röntgenaufnahmen unerlässlich waren. Professor Dumas war ein exzellenter Anatom, aber er war kein Künstler. Zu seinem großen Glück hatte er die Zeichnung eines Frosches gesehen, die Hannibal Lecter in seiner Schulzeit angefertigt hatte. Er hatte daraufhin seinen Werdegang aufmerksam verfolgt und dafür gesorgt, dass er ein Stipendium für ein Medizinstudium erhielt.
Früher Abend in der Anatomie. Tagsüber hatte Professor Dumas in seiner täglichen Vorlesung ein Innenohr seziert und es anschließend
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