Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Aroma eines Calvados in die Nase, und er wünschte sich, es wäre bereits Abend.
Popil schritt auf dem Kies auf und ab und schaute zu Lady Murasakis Fenstern hinauf. Die Gardinen waren zugezogen. Hin und wieder bewegte sich der dünne Stoff im Luftzug.
Die Tagesconcierge, eine alte Griechin, erkannte ihn.
»Madame erwartet mich«, sagte Popil. »Hat sich der junge Herr in letzter Zeit mal sehen lassen?«
Die alte Frau spürte einen leichten Ausschlag ihrer Concierge-Antenne und gab eine unverfängliche Antwort. »Ich habe ihn schon länger nicht mehr gesehen, Monsieur. Allerdings hatte ich auch ein paar Tage frei.«
Sie ließ Popil ins Haus.
Lady Murasaki lag in ihrem Duftbad. Im Wasser schwammen vier Gardenien und mehrere Orangen. Der Lieblingskimono ihrer Mutter war mit Gardenien bestickt gewesen. Inzwischen war er Asche. Während sie daran dachte, machte sie im Wasser eine kleine Welle, die die Blüten neu verteilte. Es war ihre Mutter, die Verständnis dafür gehabt hatte, als sie Robert Lecter heiratete. Die gelegentlichen Briefe ihres Vaters aus Japan wurden immer noch von einem eisigen Hauch begleitet. Statt einer gepressten Blüte oder eines duftenden Blatts hatte sein jüngstes Schreiben einen verkohlten Zweig aus Hiroshima enthalten.
Hatte es da eben an der Tür geklingelt? Sie lächelte bei dem Gedanken Hannibal und griff nach ihrem Kimono. Allerdings rief er sonst immer vorher an oder schickte eine Nachricht, und er benutzte seinen Schlüssel, nachdem er geklingelt hatte. Diesmal drehte sich kein Schlüssel im Schloss, nur die Klingel ertönte noch einmal.
Sie stieg aus dem Bad und schlüpfte eilends in den Baumwollbademantel. Ihr Auge am Spion. Popil. Popil im Spion.
Lady Murasaki hatte die gelegentlichen Mittagessen mit dem Inspektor genossen. Das erste, im Le Pré Catalan im Bois de Boulogne, war ziemlich steif verlaufen, aber die anderen Male hatten sie im Chez Paul, nicht weit von seiner Dienststelle, gegessen, und bei diesen Gelegenheiten war die Atmosphäre wesentlich unverkrampfter und entspannter gewesen. Er schickte ihr auch Einladungen zum Abendessen, immer schriftlich, eine begleitet von einem Haiku mit übertriebenen Anspielungen auf die Jahreszeit. Sie hatte die Einladungen, ebenfalls schriftlich, abgeschlagen,
Lady Murasaki entriegelte die Tür. Ihr Haar war hochgesteckt, und sie war barfüßig.
»Monsieur l’Inspecteur.«
»Verzeihen Sie, dass ich unangemeldet hier erscheine. Ich habe vergeblich versucht, Sie telefonisch zu erreichen.«
»Ich habe das Telefon gehört.«
»Aus dem Bad, nehme ich an.«
»Kommen Sie herein.«
Sie folgte seinen Blicken und sah, dass er sofort nach den Waffen vor der Samurai-Rüstung Ausschau hielt, nach dem Tanto-Dolch, dem Kurzschwert, dem Langschwert, der Streitaxt.
»Hannibal?«
»Er ist nicht hier.«
Da sie attraktiv war, war Lady Murasaki eine zurückhaltende Jägerin. Sie stand, die Hände in den Ärmeln verborgen, mit dem Rücken zum Kamin und ließ die Beute auf sich zukommen. Popils Instinkt gebot ihm, in Bewegung zu bleiben, die Beute aufzuscheuchen.
Er stand hinter einem Diwan, strich über den Bezug. »Ich muss ihn finden. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Wie viele Tage ist das jetzt schon her? Fünf, glaube ich. Wieso, was ist passiert?«
Popil stand nicht weit von der Rüstung. Er rieb über die lackierte Oberfläche einer Truhe. »Wissen Sie, wo er ist?«
»Nein.«
»Hat er irgendwelche Andeutungen gemacht, ob er verreisen wollte?«
Andeutungen gemacht. Lady Murasaki beobachtete Popil. Jetzt waren die Spitzen seiner Ohrmuscheln gerötet. Er ging im Zimmer herum und stellte Fragen und berührte Gegenstände. Er mochte unterschiedliche Texturen, berührte erst etwas Glattes, dann etwas mit Noppen. Auch bei Tisch war ihr das schon aufgefallen. Rau, dann glatt. Wie Ober- und Unterseite der Zunge. Sie wusste, sie könnte ihn mit diesem Bild elektrisieren und Blut aus seinem Hirn ableiten.
Popil ging um eine Zimmerpflanze herum. Als er Lady Murasaki zwischen ihren Blättern hindurch ansah, lächelte sie ihn an und brachte ihn aus dem Takt.
»Er wollte einen Ausflug machen, aber ich bin nicht sicher, wohin.«
»Ja, einen Ausflug«, sagte Popil. »Einen Ausflug, bei dem er Jagd auf Kriegsverbrecher macht, glaube ich.«
Er sah ihr in die Augen. »So leid es mir tut, aber ich muss Ihnen das hier zeigen.« Popil legte ein unscharfes, verschwommenes Bild auf den Teetisch. Es war noch feucht und gekräuselt vom
Weitere Kostenlose Bücher