Hannibal
Dr. Lecter redete ebenfalls. Mit leiser, ruhiger Stimme. Er brachte Interesse und Ermutigung zum Ausdruck, aber niemals Überraschung oder Zensur. Er erzählte ihr von seiner Kindheit, von Mischa. Zuweilen schauten sie zusammen auf einen einzelnen glänzenden Gegenstand, um das Gespräch zu eröffnen, meistens gab es nur eine einzige Lichtquelle im Zimmer. Der glänzende Gegenstand wechselte von Tag zu Tag. Heute begannen sie mit einem Lichtflecken auf der bauchigen Teekanne, aber als das Gespräch seinen Fortgang nahm, schien Dr. Lecter zu spüren, daß sie in einem unerforschten Korridor ihrer Seele ankamen. Vielleicht hörte er Trolle auf der anderen Seite der Wand kämpfen. Er ersetzte die Teekanne durch eine silberne Gürtelschnalle. »Das ist mein Daddy«, sagte Starling. Sie klatschte wie ein Kind in die Hände. »Ja«, sagte Dr. Lecter. »Clarice, möchten Sie mit Ihrem Vater sprechen? Ihr Vater ist hier. Wollen Sie mit ihm sprechen?« »Mein Daddy ist da! Hey! Alles klar!« Dr. Lecter legte seine Hände auf Starlings Schläfen, über ihre Temporallappen, die sie mit all dem an Vater versorgen konnten, was sie jemals brauchte. Er schaute ihr tief, tief in die Augen. »Ich weiß, daß Sie mit ihm unter vier Augen sprechen wollen. Ich werde jetzt gehen. Sie können auf die Gürtelschnalle schauen, und in ein paar Minuten werden Sie ihn anklopfen hören. Alles klar?« »Ja! Super!« »Gut. Sie müssen nur ein paar Minuten warten.« Ein kaum fühlbarer Einstich einer feinen Nadel - Starling senkte nicht einmal den Blick -, und Dr. Lecter verließ den Raum. Sie schaute auf die Gürtelschnalle, bis es klopfte, zwei kräftige Schläge, und ihr Vater trat ein, so wie sie ihn erinnerte, groß in der Türfüllung, seinen Hut auf dem Kopf, das Haar mit Wasser nach hinten gekämmt, so, wie er immer zum Abendessen kam. »Hey, Baby! Um welche Zeit eßt ihr hier?« Er hatte sie seit fünfundzwanzig Jahren, seit seinem Tod, nicht mehr in den Armen gehalten. Aber als er sie an sich zog, fühlten sich die Druckknöpfe auf seinem Hemd wie damals an. Er roch intensiv nach Seife und Tabak. Sie schmiegte sich an ihn und fühlte sein großes Herz schlagen. »Hey, Baby. Hey, Baby. Bist du hingefallen?« Es war das gleiche wie damals, als er sie nach ihrer Mutprobe im Hof aufhob, wo sie versucht hatte, auf einer großen Ziege zu reiten. »Du hast dich verdammt gut gehalten, bis sie blitzschnell die Richtung gewechselt hat. Komm mit rein in die Küche. Mal sehen, was wir da für dich finden.« Zwei Dinge auf dem Tisch in der kleinen Küche ihrer Kindheit, eine Zellophantüte mit SNO BALLS und eine Tüte mit Orangen. Starlings Vater klappte sein Barlow-Messer mit der rechtwinklig abgebrochenen Spitze auf und schälte ein paar Orangen. Die Schalen ringelten sich auf dem Öltuch. Sie saßen auf Küchenstühlen mit Leiterlehnen, und er teilte die Orangen, wobei er abwechselnd eine Scheibe aß und eine Starling gab. Sie spuckte die Kerne in ihre Hand und hielt sie in ihrem Schoß. Er wirkte groß in dem Stuhl, wie John Brigham. Ihr Vater kaute mehr auf der einen als auf der anderen Seite, und einer seiner seitlichen Schneidezähne hatte eine Krone aus weißem Metall, wie sie in der Zahnmedizin der vierziger Jahre in der Armee häufig eingesetzt wurden. Sie schimmerte, wenn er lachte. Sie aßen zwei Orangen und ein SNO BALL pro Scheibe und erzählten sich Kalauer. Starling hatte das wunderbar nachgiebige Gefühl von elastischem Zuckerschaum unter der Kokosnuß vergessen. Die Küche löste sich auf, und sie sprachen wie Erwachsene miteinander. »Wie geht es dir, Baby?« Es war eine ernstgemeinte Frage. »Sie haben mich im Bureau ganz schön auf dem Kieker.« »Ich weiß Bescheid. Das sind die Kläffer vom Gericht, Süße. Etwas Erbärmlicheres hat - hat die Welt noch nicht gesehen. Du hast doch niemanden erschossen, den du nicht erschießen mußtest?« »Ich glaube nicht. Aber da ist noch etwas anderes.« »Du hast niemals gelogen.« »Nein, Sir.« »Du hast das Baby gerettet.« »Der Kleine hat es heil überstanden.« »Darauf war ich sehr stolz.« »Danke, Sir.« »Süße, ich muß los. Wir sprechen uns.« »Du kannst nicht bleiben?« Er legte ihr seine Hand auf den Kopf. »Wir können niemals bleiben, Baby. Niemand kann bleiben, wie er möchte.« Er küßte sie auf die Stirn und ging aus dem Raum. Sie konnte das Einschußloch in seinem Hut sehen, als er in voller Größe im Türrahmen stand und ihr zum Abschied
Weitere Kostenlose Bücher