Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hannibal

Hannibal

Titel: Hannibal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
Vom Netzwerk:
winkte.

KAPITEL 95
    Starling liebte ihren Vater so, wie wir einen Menschen nur lieben können, und sie hätte jeden angegriffen, der es wagte, sein Andenken in den Dreck zu ziehen. Jetzt, in der Unterhaltung mit Dr. Lecter, unter dem Einfluß eines sehr starken Hypnotikums, sagte sie folgendes: »Ich bin trotz allem stinksauer auf ihn. Ich meine, mal ehrlich, was hatte er hinter der gottverdammten Apotheke mitten in der Nacht zu suchen, und warum mußte er gegen diese beiden Taugenichtse antreten, die ihn umgelegt haben. Er murkste mit seiner alten Pumpgun herum. Und peng: Ladehemmung. Schon hatten sie ihn. Er wußte schlicht und ergreifend nicht, was er tat. Nichts hat er begriffen. Niemals.« Jedem anderen, der das zu sagen gewagt hätte, hätte sie ins Gesicht geschlagen. Das Ungeheuer lehnte sich ein wenig in seinem Stuhl zurück. Ahh, endlich sind wir soweit. Diese Schulmädchenerinnerungen begannen langsam öde zu werden. Starling versuchte, wie ein Kind ihre Füße unter dem Stuhl baumeln zu lassen, aber ihre Beine waren zu lang. »Sehen Sie, er hatte diesen Job, er ging zur Arbeit und tat, was sie ihm sagten, ging mit dieser verdammten Nachtwächteruhr herum, und dann war er tot. Und Mama hat das Blut aus seinem Hut gewaschen, damit der mit ihm begraben werden konnte. Wer kam zu uns nach Hause? Niemand. Es gab verdammt wenig SNO BALLS danach, das kann ich Ihnen flüstern. Mama und ich haben Motelzimmer
saubergemacht. Leute hatten, gebrauchte Präser auf dem Nachttischchen liegen. Er wurde getötet und ließ uns zurück, weil er so gottverdammt dumm war. Er hätte diesen Blödmännern aus der Stadtverwaltung sagen sollen, daß sie sich ihren Job sonstwohin stecken können.« Dinge, die sie sonst nie gesagt haben würde, Dinge, die aus den höheren Bewußtseinsschichten verbannt waren. Vom Beginn ihrer Bekanntschaft an hatte Dr. Lecter sie wegen ihres Vaters aufgezogen, ihn einen Nachtwächter genannt. Nun wurde er zu Lecter, dem Bewahrer der Erinnerung an ihren Vater. »Clarice, er hat sich niemals etwas anderes gewünscht, als daß Sie glücklich werden und es Ihnen gutgeht.« »Wünschen Sie sich was in die eine Hand, und scheißen Sie in die andere, und sehen Sie, welche Hand zuerst voll wird«, antwortete Starling. Das Sprichwort aus Waisenhaustagen hätte eigentlich aus einem so attraktiven Mund eine besonders unangenehme Wirkung haben müssen, aber Dr. Lecter schien erfreut, ja sogar ermutigt. »Clarice, ich bitte Sie, mir in einen anderen Raum zu folgen«, sagte Dr. Lecter. »Ihr Vater hat Sie besucht, so gut Sie es bewältigen konnten. Sie haben das begriffen. Entgegen Ihrem sehnlichsten Wunsch, ihn bei sich zu behalten, konnte er nicht bleiben. Er hat Sie besucht. Nun ist es an der Zeit, daß Sie ihn besuchen.« Einen Flur hinunter zu einem Schlafzimmer für Gäste. Die Tür war geschlossen. »Warten Sie einen Moment, Clarice.« Er ging hinein. Sie stand im Flur mit ihrer Hand auf der Türklinke und hörte, wie ein Streichholz entzündet wurde. Dr. Lecter öffnete die Tür. »Clarice, Sie wissen, Ihr Vater ist tot. Sie wissen das besser als jeder andere.« »Ja.« »Kommen Sie herein und sehen Sie ihn sich an.« Die Knochen ihres Vaters waren sorgfältig auf einem Doppelbett arrangiert. Die großen Knochen und der Brustkorb wurden von einem weißen Laken bedeckt. Das Ganze glich einem Schnee-Engel, wie ihn Kinder, auf dem Rücken mit Armen und Beinen rudernd, so gern im strahlenden Weiß des Winters hinterlassen. Der Schädel ihres Vaters ruhte, von dem winzigen Meeresgetier an Dr. Lecters Strand gesäubert, getrocknet und ausgebleicht auf dem Kopfkissen. »Wo war sein Stern, Clarice?« »Das Dorf hat ihn zurückverlangt. Sie sagten, er hätte sieben Dollar gekostet.« »Das ist er, das ist alles, was von ihm übriggeblieben ist. Das ist das, was die Zeit ihn hat werden lassen.« Starling blickte auf die Knochen. Sie wandte sich um und verließ schnell das Zimmer. Es war keine Flucht, und Dr. Lecter folgte ihr nicht. Er wartete im Halbdunkel. Er hatte keine Angst, aber er hörte sie, mit gespitzten Ohren wie eine Ziege, die spürt, daß sie belauert wird, zurückkommen. Sie hatte etwas metallisch Glänzendes in ihrer Hand, John Brighams Dienstmarke. Sie legte sie auf das Leinentuch. »Was könnte Ihnen ein Abzeichen bedeuten, Clarice? Sie haben in der Scheune eines durchlöchert.« »Ihm bedeutete es alles. So viel wuwuwußte er.« Die letzten Worte zerfielen ihr im Mund wie modrige Pilze, und ihre

Weitere Kostenlose Bücher