Hannibal
Nähe von Galileos Grab lauerte, fand sie dort. Er wies mit dem Kinn in den hinteren Teil der Kirche, wo jenseits des Querschiffs die klickenden Zeitschaltuhren Zweihundert-LireMünzen, gelegentlich auch Falschgeld oder australische Quarter in sich hineinfraßen und Flutlichter und verbotene Kameras Blitze durch das ewige Dämmerlicht schleuderten. Wieder und wieder wurde Christus geboren, verraten und ans Kreuz geschlagen, wenn die großartigen Fresken, in gleißendes Licht getaucht, zum Leben erwachten, nur um neuerlich ins beengte und überfüllte Halbdunkel zurückzusinken. Die herumirrenden Pilger hielten Reiseführer in ihren Händen, die sie nicht sehen konnten. Der Geruch ihrer Körper stieg zusammen mit dem Duft von Weihrauch auf und wurde in der Hitze der Lampen verkocht. Im linken Querschiff arbeitete Dr. Fell in der CapponiKapelle. Die prächtigste Capponi-Kapelle befand sich in Santa Felicitä. Diese hier, im neunzehnten Jahrhundert restauriert, war für Dr. Fell von Interesse, weil er durch die Schichten der Restauration hindurch einen Blick in die Vergangenheit werfen konnte. Er schraffierte gerade mit einem Kohlestift eine verblaßte Inschrift im Stein, die nicht einmal mehr durch schräg einfallendes Licht zum Leben zu erwecken gewesen wäre. Während Pazzi den Doktor durch sein kleines Fernrohr beobachtete, begriff er mit einemmal, warum dieser das Haus nur mit einer Einkaufstasche verlassen hatte
- er bewahrte seine Gerätschaften und Materialien hinter dem Altar der Kapelle auf. Einen Augenblick lang spielte Pazzi mit dem Gedanken, Romula von der ganzen Sache abzuziehen, sie laufen zu lassen und von den Malutensilien Fingerabdrücke abzunehmen. Nein, der Doktor trug Stoffhandschuhe, um sich die Finger nicht mit Kohle zu beschmutzen. Im günstigsten Fall würde es in einer Tölpelei enden. Romulas Technik war für die offene Straße tauglich. Aber sie war eine Person, die ein Krimineller nicht zu fürchten brauchte. Sie war niemand, die den Doktor auf Fluchtgedanken brachte. Nein. Sollte der Doktor sie erwischen, würde er sie dem Küster übergeben, und Pazzi könnte später eingreifen. Der Mann war wahnsinnig. Was, wenn er sie tötete? Wenn er das Baby umbrächte? Pazzi stellte sich zwei Fragen. Würde er gegen den Doktor kämpfen, wenn die Situation einen tödlichen Ausgang zu nehmen drohte? Ja. Nahm er in Kauf, daß Romula und das Baby leicht verletzt würden, damit er an das versprochene Geld käme? Ja. Sie mußten warten, bis Dr. Fell die Handschuhe abstreifte und zum Mittagessen ging. Das Querschiff auf und ab schlendernd, hatten Pazzi und Romula Gelegenheit, miteinander zu flüstern. Pazzi hatte ein Gesicht in der Menge ausgemacht. »Wer folgt dir, Romula? Heraus damit. Ich kenne das Gesicht aus dem Gefängnis.« »Ein Freund, der mir den Rücken freihält, falls ich wegrennen muß. Er weiß nichts. Rein gar nichts. Glauben Sie mir, es ist besser für Sie. So machen Sie sich die Finger nicht schmutzig.« Gewissermaßen um sich die Zeit zu vertreiben, beteten die beiden in verschiedenen Kapellen der Basilika. Romula murmelte in einer Sprache, die Rinaldo nicht verstand. Er betete für eine sehr lange Liste von Dingen. Insbesondere war da ein Haus am Ufer der Chesapeake Bay und etwas anderes, an das er in der Kirche eigentlich nicht hätte denken dürfen. Süße Stimmen eines in der Kirche probenden Chores schwebten über dem allgemeinen Lärm. Eine Glocke kündigte die Zeit der mittäglichen Schließung an. Küster kamen, rasselten mit ihren Schlüsselbunden und machten sich bereit, die Münzspeicher zu leeren. Dr. Fell erhob sich von seiner Arbeit und kam hinter Andreottis Pietä aus der Kapelle hervor. Er streifte sich die Handschuhe ab und zog seine Jacke an. Eine große Gruppe Japaner stand, ihres Vorrats an Münzen beraubt, dichtgedrängt im Dämmerlicht vor dem Allerheiligsten und verstand offenbar nicht, daß sie die Kirche verlassen mußte. Pazzi stieß Romula in die Seite, was völlig überflüssig war, denn sie wußte, daß die Zeit zum Handeln gekommen war. Sie küßte das Baby auf die Stirn, das, auf ihren Holzarm gebettet, ruhig schlummerte. Der Doktor kam. Der Menge wegen würde er dicht an ihr vorbeikommen. Mit drei großen Schritten ging sie auf ihn zu, baute sich vor ihm auf und hielt ihre Hand in sein Gesichtsfeld, um auf sich aufmerksam zu machen. Bereit, mit ihrem verborgenen Arm den Griff zu wagen, küßte sie ihre Finger und schickte sich an, einen Fuß auf seiner Wange
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