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Hannibal

Hannibal

Titel: Hannibal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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sondierte wie ein Präriehund die Lage. Sollte das Opfer Romula zu fassen bekommen und sie festhalten, würde Gnocco stolpern, das Opfer anrempeln und so lange mit ihm verheddert bleiben, bis sie sich in Sicherheit gebracht hatte. Pazzi hastete an ihr vorüber und reihte sich in die Schlange vor einer Saftbar ein. Von dort aus hatte er einen guten Überblick. Romula trat aus dem Hauseingang heraus. Mit geübtem Blick musterte sie das geschäftige Treiben zwischen sich und der herannahenden schlanken Gestalt. Sie konnte sich, mit dem Baby auf dem falschen Arm aus Holz und Leinen, erstaunlich behende durch eine Menge bewegen. So weit, so gut. Wie gewöhnlich würde sie die Finger ihrer sichtbaren Hand küssen und sie an sein Gesicht führen, um dort einen Kuß anzudeuten. Mit ihrer freien Hand würde sie oberhalb der Rippen nach seiner Brieftasche tasten, bis er sie am Handgelenk packte. Dann würde sie sich von ihm losreißen. Pazzi hatte ihr versichert, daß dieser Mann es sich nicht leisten könne, sie der Polizei zu übergeben. Er wolle sicher nichts anderes, als von ihr wegzukommen. Auf all ihren Beutezügen war nie jemand gegenüber einer Frau mit einem Baby auf dem Arm gewalttätig geworden. Die Opfer hatten oft angenommen, daß es jemand anders neben ihnen gewesen war, der die Jackentasche durchwühlt hatte. Romula selbst hatte, um einer Verhaftung zu entgehen, wiederholt unschuldige Passanten des Diebstahls bezichtigt. Romula schob sich mit der Menge auf dem Bürgersteig vorwärts, machte ihren versteckten Arm frei, hielt ihn aber unter den falschen Arm, der ihr Baby wiegte. Sie konnte das Ziel durch das Meer wogender Köpfe auf sich zukommen sehen. Zehn Meter und näher kommend. Madonna! Dr. Fell scherte aus dem Ge wühl der Menge aus und ging mit einem Pulk Touristen über den Ponte Vecchio. Er ging nicht nach Hause. Sie drängte sich vorwärts, aber es gab keine Chance, ihn zu erreichen. Gnocco, noch immer dem Doktor voraus, wandte sich ihr mit fragendem Gesicht zu. Sie schüttelte den Kopf, und so ließ Gnocco ihn passieren. Es wäre sicherlich nichts Gutes dabei herausgekommen, wenn Gnocco die Brieftasche gestohlen hätte. Als ob das Ganze ihre Schuld wäre, tauchte Pazzi, vor Wut schnaubend, neben ihr auf. »Geh zurück in die Wohnung. Ich ruf dich dort an. Hast du die Fahrerlaubnis für die Altstadt noch? Nun mach schon. Verschwinde!« Pazzi kehrte zu seinem motorino zurück und schob es über den Ponte Vecchio hinüber, über den jadegrünen, träge dahinfließenden Arno. Er glaubte, den Doktor verloren zu haben. Aber dann sichtete er ihn in der Menge auf der anderen Seite des Flusses unter den Arkaden am Lungarno, als er einem der Zeichenkünstler dort über die Schulter auf den Block blickte und dann schnellen, leichten Schrittes davonging. Pazzi vermutete, daß Dr. Fell zur Kirche Santa Croce ging, und folgte ihm in sicherem Abstand durch den wie immer höllischen Verkehr von Florenz.

KAPITEL 26
    Die Basilika von Santa Croce, der Sitz der Franziskaner, mit ihrem riesengroßen Innenraum hallte von acht verschiedenen Sprachen wider, während die Touristenhorden hinter den bunten Schirmen ihrer Führer durch die Kirche trampelten und im Halbdunkel ihre Taschen nach Zweihundert -Lire-Münzen durchsuchten, um das Licht für die großartigen Fresken der Kapellen für wenige kostbare Minuten ihres Lebens bezahlen zu können. Romula, die aus dem strahlenden Licht des Morgens kam, mußte für einen Augenblick an der Grabstätte Michelangelos innehalten, bis sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Als sie bemerkte, daß sie auf einer der in den Boden eingelassenen Grabplatten stand, flüsterte sie: »Mi dispiace!« und trat schnell einen Schritt zur Seite; für Romula waren die Toten unter den Marmorplatten genauso wirklich wie die Lebenden, die über sie hinwegspazierten, und möglicherweise sogar einflußreicher als diese. Als Tochter und Enkeltochter von Wahrsagern und Handleserinnen betrachtete sie die Lebenden und die Toten als zwei große Gruppen, die nur durch den Erdboden als der Fläche alles Vergänglichen voneinander getrennt waren. Die darunter lagen, älter und klüger, waren ihrer Meinung nach im Vorteil. sie blickte sich suchend nach dem Küster um, einem Mann, der für seine Vorurteile gegenüber Zigeunern bekannt war, und nahm, während das Baby trank, Zuflucht bei der ersten Säule, die unter dem Schutz von Rossellinos »Madonna del Latte« stand. Pazzi, der in der

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