Hannibal
Leute, um die sich wirklich jemand kümmern muß. Haßt du es nicht, dein Baby immer wieder abgeben zu müssen, wenn die Besuchszeit vorbei ist?« Was konnte er von ihr wollen? Sie wußte, wer er war, ein Chefinspektor, ein pezzo da novanta, ein echtes Arschloch. Als Taschendiebin gehörte es für Romula zum täglichen Geschäft des Überlebens auf der Straße, zu wissen, was los war. Sie war eine wettergebräunte Fünfunddreißigjährige mit einem unglaublich guten Wahrnehmungsvermögen. Dieser Polizist sie studierte ihn über den Wandschirm hinweg -, wie adrett er doch wirkt, der Ehering, die polierten Schuhe; er lebt mit seiner Frau zusammen, hat aber auch ein gutes Hausmädchen - die Kragenstäbchen waren nach dem Bügeln eingesetzt worden; Brieftasche in der Jackettasche, Schlüssel in der rechten vorderen Hosentasche, das Geld in der linken vorderen Hosentasche, wahrscheinlich gefaltet und mit einem Gummiband
zusammengehalten; sein Schwanz dazwischen; muskulös und männlich, ein bißchen zu viele Haare im Ohr und eine Narbe am Haaransatz von einem Schlag; er wird keinen Sex von mir wollen dann hätte er nicht das Baby mitgebracht; er ist nicht gerade das, was man eine Schönheit nennt, aber er muß bestimmt niemanden hier drin zum Sex nötigen. Besser, ich schaue nicht in seine schwarzen verbitterten Augen, während das Baby trinkt. Warum hat er das Baby mitgebracht? Weil er mir seine Macht
demonstrieren will, drohen will, es mir wegzunehmen. Was also will er? Informationen? Ich erzähle ihm alles, was er über die fünfzehn Zigeuner hören will, die gar nicht existieren. Wie komme ich hier bloß heil raus? Das wird sich weisen. Zeigen wir ihm doch erst einmal was kleines Braunes. Sie schaute ihm ins Gesicht, als sie hinter dem Wandschirm hervorkam, den braunen Halbmond neben dem Babykopf. »Es ist so verdammt heiß dahinter«, sagte sie. »Könnten Sie ein Fenster für mich öffnen?« »Ich könnte noch viel mehr für dich tun, Romula. Ich könnte dir diese Tür öffnen, und das weißt du.« Stille in dem Raum. Draußen der ewig gleiche, aufs Gemüt gehende Krach von Sollicciano. »Was wollen Sie von mir? Ich tue Ihnen gern einen Gefallen, aber nicht jeden.« Zu Recht sagte ihr ihr Instinkt, daß er sie gerade wegen der Einschränkung respektieren würde. »Es ist nur la tua solita cosa, das Übliche für dich«, sagte Pazzi, »aber ich will, daß du es dieses eine Mal für mich verpfuschst.«
KAPITEL 25
Tagsüber beobachteten sie die Vorderfront des Palazzo Capponi durch die halbgeschlossenen Fensterläden im Haus gegenüber Romula, eine ältere Zigeunerin, die ihr mit dem Baby half und vielleicht ihre Cousine war, und Pazzi, der sich so oft wie möglich aus seinem Büro wegstahl. Der Holzarm, den Romula bei der Arbeit benutzte, lag auf einem Stuhl im Schlafzimmer. Pazzi durfte die Wohnung eines Lehrers der nahegelegenen Dante-AlighieriSchule über Tag nutzen. Romula bestand für sich und ihr Baby auf ein eigenes Fach im kleinen Kühlschrank. Sie mußten nicht lange warten. Um 9.30 Uhr am zweiten Tag zischte Romulas Helferin aufgeregt auf ihrem Stuhl am Fenster. Auf der anderen Straßenseite gähnte eine schwarze Leere, als einer der beiden Flügel des großen Palazzo-Tors nach innen aufgeschwungen war. Und da war er, der Mann, den man in Florenz unter dem Namen Dr. Fell kannte. Er wirkte klein und schlank in seiner dunklen Kleidung und nahm auf dem kleinen Vorplatz des Palazzo geschmeidig wie ein Nerz nach beiden Seiten der Straße hin Witterung auf. Dann aktivierte er mit einer Fernbedienung die Alarmanlage und zog den Torflügel an der großen, schmiedeeisernen Klinke ins Schloß. Sie war so verrostet, daß an eine Abnahme von Fingerabdrücken nicht zu denken war. Er hatte eine Einkaufstasche bei sich. Die alte Zigeunerin bekam Dr. Fell das erste Mal zu Gesicht. Sie griff nach Romulas Hand, so als wollte sie sie aufhalten, schaute Romula ins Gesicht und schüttelte hastig den Kopf, als der Polizeibeamte gerade nicht hersah. Pazzi wußte sofort, wohin Lecter ging. Beim Durchwühlen von Dr. Fells Abfall war ihm das auffällige Einwickelpapier des
Delikatessengeschäfts »Vera dal 1926« in der Via San Jacopo nahe der Santa-Trinita-Brücke aufgefallen. Jedenfalls machte er sich in diese Richtung auf den Weg. Pazzi sah aus dem Fenster. Romula zuckte in ihrer Verkleidung mit den Achseln. »Dunque, es ist der Lebensmittelladen«, sagte Pazzi. Er konnte es sich nicht verkneifen, die Instruktionen für Romula
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