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Hans Heinz Ewers

Hans Heinz Ewers

Titel: Hans Heinz Ewers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geschichten des Grauens
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trat hin zu Stephe, richtete ihn auf. „Komm, Stephe komm!“ Er führte ihn in den Wartesaal, bestellte Kaffee. Aber Stephe rührte nichts an.
    „Komm nach Hause!“ sagte der Vlame endlich. Stephe schüttelte den Kopf. Sprach dann, still und ruhig – nein, er würde nie wieder auf den Friedhof gehn.
    „Wohin denn?“ fragte Olieslagers.
    „Ich weiß nicht“, sagte Stephe.
    „Wollen wir wegfahren?“ sagte Olieslagers. „Du und ich – zusammen? Irgendwohin!?“
    Er wartete die Antwort nicht ab. Fuhr hinaus zum Friedhof, packte seine Sachen und die Stephes – zwei kleine Handkoffer. Kam zurück zur Stadt – fand Stephe unbeweglich auf demselben Stuhle.
    „Sie hat mich verraten!“ murmelte er. „Verraten –“ Und dies Wort wiederholte er, als ob nichts anderes mehr Platz habe in seinem Hirn.
    Jan Olieslagers nahm Karten für den Zehnuhrzug. Er zwang Stephe, ein wenig zu essen, führte ihm die Tasse zum Munde, fütterte ihn wie ein Kind –
    „Verraten –“, flüsterte Stephe „verraten –“
    Sie stiegen in den Zug. Jan Olieslagers sagte: „Wir fahren nach Chicago. Später nach Baltimore. Dort –“
    Stephe antwortete: „Verraten – sie hat mich verraten –“
    Sehr müde war der Vlame: Er rechnete nach – es waren nun dreißig Stunden, daß er nicht geschlafen hatte. Er lehnte sich zurück, nickte ein.
    Immer wieder wachte er auf, blickte auf den Freund. „Verraten –“, hörte er. Und als er schließlich doch einschlief und sehr tief schlief, klang es in seinen Ohren: „Verraten – sie hat mich verraten – ver-ra-ten.“ –
    Der Schaffner rüttelte ihn wach. „Chicago!“ rief er. „Aussteigen, Herr!“ Jan Olieslagers reckte sich hoch. „Wo ist Stephe?“ fragte er. „Wo ist mein Freund?“
    „Ausgestiegen!“ sagte der Schaffner. „In – in –“ Er wußte die Station nicht mehr. Aber es war schon vor vier Stunden gewesen, oder vor fünf.
    Jan Olieslagers blickte umher – auch Stephes Köfferchen fehlte. Das hatte er also mitgenommen –
    Nie sah er ihn wieder.

 
     
     
     
Sibylla Madruzzo
     
    Der Gendarm empfing Frank Braun lärmend, er saß mit dem Wirt am Tisch, während Teresa das Essen auftrug. Er zeigte stolz seinen neuen Helm und sagte, daß er die Nacht in seinem Leben nicht vergessen wolle, in der er den alten vertrank. Bewundernd sah er Frank Braun an – ja, das war ein Kerl!
    Frank Braun war nicht in der Laune, zu singen und zu trinken. Die Reden Drenkers belästigten ihn, so lenkte er ab. „Die alte Bettlerin ist Ihre Freundin?“
    Der Grenzer sagte: „Gewiß ist sie meine Freundin. Aber so alt ist sie gar nicht: ein paar Jahre jünger als ich und wenigstens zehn Jahre jünger als Raimondi!“ Er wiederholte das dreimal, daß ihn der Wirt verstehen könne.
    Der nickte bestätigend. „Sie sieht nur so alt aus.“
    Drenker lachte. „Die Sibylla sieht aus wie achtzig, oder hundert, oder hundertundzwanzig. Das ist alles eins. Und doch ist’s wahr, daß wir alle drei verliebt in sie waren!“
    Frank Braun war froh, daß der Wein und der Helm erledigt waren. Er hielt ihn fest. „Drei? Wer war in die Alte verliebt?“ fragte er.
    „Ho, nicht in die alte – in die junge Sibylla!“ verbesserte ihn Drenker. „Wir drei waren in sie verliebt: Raimondi, Ussolo und ich – drei flotte Kaiserjäger! Bessere Liebhaber hatte nie eine Dirne in Val di Scodra – was Raimondi? – Aber schlimm ist’s ausgelaufen, und die arme Sibylla schleppt noch heute ihr Kreuz herum. Denn damals, Herr, war sie schlank und gerade wie eine Tanne, und kein Mädel war hübscher in ganz Tirol. – Als der arme Ussolo so jämmerlich zugrunde ging, da bekam sie den Knacks.“
    „So erzählen Sie doch!“ drängte Frank Braun.
    „Erzählen – ja, es ist eine ganze Geschichte!“ rief Drenker. „Aber trocken?“ Er goß die letzten Tropfen aus der Flasche in sein Glas.
    Frank Braun hieß den Wirt ein paar Flaschen Vino Santo holen, vom Tobliner Tal. Er baute sie dicht vor dem Gendarmen auf. Drenker wollte ihm einschenken, aber er wehrte ab. „Nein, danke, ich mag heute nicht trinken.“
    Drenker schüttelte den Kopf. „Komische Leute seid ihr gelehrten Herrn! Einmal trinken sie wie zehn alte Schiffskapitäne und dann wieder keinen Tropfen! – Es ist kein Sinn und Verstand darin.“
    „Nein“, bestätigte Frank Braun, „ es ist durchaus kein Sinn und Verstand darin. – Aber nun trinken Sie, Drenker, und erzählen Sie von den Liebhabern der jungen Sibylla Madruzzo.“ Der

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