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Hans Heinz Ewers

Hans Heinz Ewers

Titel: Hans Heinz Ewers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geschichten des Grauens
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vielleicht Stephe vor sich entdecken könnte. Aber er sah ihn nicht – der war gewiß gerannt bis zur Stadt hin. Er bog von der Hauptstraße ab, machte eine kleine Abkürzung zum Bahnhofsplatz. Es war hell genug nun, er blickte auf die große Bahnhofsuhr: noch achtzehn Minuten bis zur Abfahrt.
    Er ging durch die Wartesäle und über die Bahnsteige. Es waren nur wenige Leute da, und er sah weder Stephe noch sonst einen Menschen, der etwas mit einer Leichenüberführung zu tun zu haben schien. Er ging wieder zurück zur Straße – da fuhren ein paar Autos vor. Schwarze Männer und Frauen in Trauerkleidung stiegen aus. Er erkannte den Vater Paschitsch und seine rundliche Frau, er erkannte auch Dan Bloomingdale, den ersten Anwalt der Stadt, den er öfter auf dem Kirchhofe gesehn hatte. Aus dem nächsten Auto stiegen ein Offizier und ein paar Soldaten, aus dem dritten einige Damen und Herren mit Totenkränzen. Und er sah, hinten über den weiten Platz her, Stephe heranlaufen. Er winkte ihm, ging dann der Trauergesellschaft nach, die in die Bahnhofshalle trat. Alle gingen in den Wartesaal, nur die Soldaten eilten in den Gepäckraum. Er sah, wie sie dort die große Kiste auf einen Karren luden und zum Bahnsteig fuhren.
    Der Zug ratterte ein, die Soldaten schoben ihren Karren zum Gepäckwagen hin; drei Herren schritten hinterher, die Arme mit Kränzen behangen. Der Rechtsanwalt sprach mit dem Zugführer, zeigte ihm die amtlichen Dokumente für die Erlaubnis der Überführung.
    In diesem Augenblick kam Stephe an, völlig außer Atem, unfähig ein Wort zu sprechen. Er stöhnte, schluchzte auf, griff mit beiden Händen nach der Sargkiste.
    „Hände weg!“ rief der Offizier.
    Stephe riß an dem Sarge, als wollte er ihn fortschleppen. Schaum troff ihm von den Lippen, aus seiner Brust brach ein tiefes Röhren.
    Zwei Soldaten faßten ihn an, Stephe stieß sie zurück.
    „Räuber!“ brüllte er, „Diebe! Hurensöhne!“ Sie warfen sich auf ihn – ein Schreien, Zerren und Stoßen. Sie rissen ihn zu Boden – aber er brüllte weiter: „Räuber! Hurensöhne!“
    Aber Dan Bloomingdale, der Rechtsanwalt, wollte keinen Skandal.
    „Laßt ihn los, Leute!“ befahl er. „Seht ihr nicht, daß er übergeschnappt ist? Ein verrückter Liebhaber!“ Er wandte sich an Stephe: „Nun, mein Junge, was ist es? – Hast du sie geliebt?“
    Im Augenblick schien Stephe zahm. „Ja, Herr“, stammelte er, „ja, Herr!“
    „Nun“, beschwichtigte ihn der Anwalt, „das ist schon begreiflich, sie war ein hübsches Kind – werden wohl noch manche sie geliebt haben! Aber du mußt einsehn: Sie ist nun tot! Tot, wie eine Ratze! Mausetot!“
    „Ja, Herr, ja!“ flüsterte Stephe sehr sanft.
    „Ja – – –“ Dann besann er sich; bescheiden wie ein Knabe bat er: „Darf ich mitfahren, Herr?“
    Der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf, man sah ihm an, daß er eine große Sympathie zu diesem wilden Liebhaber hatte. „Ich weiß nicht, mein Junge – wirklich, ich weiß nicht, ob sich das machen läßt – vielleicht –“
    Stephe unterbrach ihn mit einem neuen Gedanken: „Herr – wenn Sie mir nur sagen wollen, wo sie beerdigt wird – ich will Blumen – Blumen hintragen.“
    Der Anwalt griff seine Hand und drückte sie: „Du bist ein braver Bursche, wirklich, ein braver Junge! Beerdigt – nun, sie wird nicht beerdigt werden, siehst du! Wir fahren nach Chicago – zum Krematorium. Verbrannt wird sie werden!“
    Es war, als ob einer eine schwere Axt ihm auf den Kopf geschlagen habe. Stephe taumelte, brüllte wie ein Stier, fiel um – einer der Soldaten fing ihn auf.
    „Ver – – verbra – –!“ stöhnte er „Nein – nein! Sie darf nicht – sie will nicht – will nicht –“
    Dan Bloomingdale hob die Mütze auf, die zu Boden gefallen war, setzte sie Stephe auf den Kopf. „Doch, mein Junge, gerade sie wollte es! Ich bin Rechtsanwalt, siehst du, und Notar – ich habe ihren letzten Willen aufgesetzt! Schau her“ – Er griff in die Tasche, nahm ein Aktenstück heraus. – „Schau her – das hat sie selbst diktiert! Sie bestimmte es, daß sie verbrannt werden sollte –“
    Stephe riß die Augen weit auf – und die Lippen –, aber kein Ton kam heraus. Sie hoben die Sargkiste in den Gepäckwagen, setzten Stephe vorsichtig auf die Karre. Er ließ die Arme fallen, starrte gradeaus.
    Das Abfahrtsignal – und die Leute drängten in die Wagen. Nur die Soldaten blieben zurück, gingen langsam fort. Und der Zug fuhr ab.
    Jan Olieslagers

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