Hansetochter
Speicherböden waren leer, am Windenrad hatten sich erste Spinnweben gebildet. Wurde der Seilzug denn gar nicht mehr benutzt? Aber wofür auch, wenn keine Waren mehr da waren! Lediglich auf dem untersten Speicher lagerten noch Getreidesäcke und Fässer.
»Wo sind denn die Waren hin? Ich habe gesehen, dass einige abtransportiert wurden, aber hier fehlt viel mehr«, fragte sie.
»Verkauft, soweit ich weiß«, meinte Simon mundfaul.
Sie schlichen hinunter in die Dornse. Der Schrank, in dem Vater seine Schatullen verwahrte, war verschlossen.
»Hast du einen Schlüssel?«, fragte Henrike.
Ihr Bruder rieb sich die Augen, langsam wurde sein Blick klarer. »Der Onkel hat ihn versteckt. Aber die Handlungsbücher sind hier, im Regal. Das ist das neueste.«
Er zog eines heraus, legte es auf den Tisch und schlug es auf. In langen Reihen türmten sich Zahlen und Buchstaben. Daneben waren Zeichnungen, Daten, Mengen, Preise und die dazugehörigen Kaufmannszeichen. Es gab jedoch auch zahlreiche beigelegte Zettel, auf denen etwas notiert war. Henrikes Zeigefinger fuhr zu der letzten Eintragung im Buch. Sie war aus dem vorigen Jahr.
»Was bedeutet das?«, wollte Henrike wissen.
»Hier hat Vater seine letzten Geschäfte eingetragen.«
»Und seitdem? Sind keine Waren dazugekommen?«
Henrike fühlte sich hellwach, während Simons Mund sich erneut in einem herzhaften Gähnen weitete.
»Wenige. Die Gotthilf , Vaters Schiff, ist mit seiner ganzen Ladung in einem Sturm verlorengegangen.« Das hatte Henrike ja noch gar nicht gehört! Sie fragte ihn nach den Umständen des Schiffsunglücks aus. Während er erzählte, wurde er endlich munterer.
»Wenn ich nur endlich mitfahren dürfte!«, seufzte ihr Bruder. »Ich würde mich gegen den Sturm stemmen, das Schiff sicher durch ihn hindurchführen! Und erst die Piraten! Ich würde Gehacktes aus ihnen machen!« Entschlossen schlug er ein paar Mal in die Luft.
Henrike lächelte, Simons Kampfgeist rührte sie. Nur gut, dass bis dahin noch ein paar Jahre ins Land gingen. Im Moment würden wohl eher die Seeräuber diesem übermütigen Jungen den Garaus machen.
Da ließ sie eine Stimme auffahren. »Was tut ihr hier?«
Jost war eingetreten und starrte Henrike an. Jetzt erst ging ihr auf, dass sie nur ein dünnes Hemd trug. Verlegen zog sie ihr Schultertuch enger vor der Brust zusammen. Sie wollte ihn eigentlich nicht mit in ihre Nachforschungen einbeziehen. Sie war nicht sicher, ob er sie verraten würde, zu eifrig war er ihrem Onkel dienstbar. Aber nun, wo er schon mal da war, half wohl nur noch Ehrlichkeit.
»Jost, gut, dass du da bist. Simon wollte mir gerade dabei helfen, in die Handlungsbücher zu schauen.«
Der Kaufmannsgehilfe beäugte sie misstrauisch. »Zu welchem Zweck?«
Henrike lächelte ihn an. Sie war beruhigt, als sein Blick wieder offener wurde. »Du kennst ja den letzten Willen unseres Vaters. Er hat dich ebenfalls darin bedacht, wie es ein guter Gehilfe auch verdient. Das Haus und die Waren gehören uns, Simon und mir. Ich möchte besser verstehen, was ich eigentlich geerbt habe«, erklärte sie.
»Warum fragt Ihr nicht einfach Euren Onkel, Jungfer Henrike, statt nachts durchs Haus zu schleichen?«
Henrike seufzte entschuldigend. »Du weißt doch, dass er mir das niemals erlauben würde. Und ich möchte nicht, dass er mir wieder zürnt oder mich gar wegschickt. Ich möchte hier bleiben, bei euch ... allen.«
Sie sah ihm geradeheraus in die Augen. Sie wollte ihn auf ihre Seite bringen.
Jost schlug verwirrt den Blick nieder, kratzte sich am Hals, der von einem Ausschlag gerötet war. »Es ist an dem neuen Herrn, das Buch zu führen. Deshalb habe ich erst einmal auf Zetteln notiert, was das Lager verlassen hat.«
Er zog einen der Zettel hervor, die lose in dem Buch lagen. Henrike las verschiedene Namen, Waren und Zahlen.
»Sind das alles Handelspartner unseres Vaters?«
»Nein. Einige Waren hat euer Onkel an andere Händler verkauft. Außerdem hat Herr Nikolas Einiges mit nach Wismar genommen.«
Widerspruch regte sich in Henrike.
Jost schien es zu spüren, denn er sagte: »Ihr dürft nicht vergessen, Hartwig Vresdorp ist Euer Vormund. Er muss für euch und die Geschäfte des Vaters sorgen, solange ihr noch unmündig seid.«
Ja, das stimmte. Aber was war mit den Einnahmen? Mussten sie nicht auch in das Handelsbuch eingetragen werden, damit man seine Geschäfte nachvollziehen konnte? War es nicht letztlich Simons und ihr Geld? Frage um Frage drang aus
Weitere Kostenlose Bücher