Hansetochter
und auch, wenn Simon nicht wusste, was, spürte er, dass sich ein tiefer Riss zwischen ihr und Nikolas aufgetan hatte, den man kaum mehr würde überbrücken können.
»Simon Vresdorp!«
Ein harscher Ruf bereitete seinem Gedankenfluss ein abruptesEnde. Sein Vetter hatte sich neben dem Schiffer eingefunden und gab ihm ein Handzeichen. Simon drängte sich zwischen den Kaufleuten hindurch. Sie hatten es sich auf Deck bequem gemacht und ließen bereits die Würfel fliegen, während die Lehrjungen sich eher in der Nähe des Mastes aufhielten. Er kannte einige von ihnen, aber bei Weitem nicht alle. Simon stellte sich vor dem Schiffer auf, straffte die Schultern. Kapitän Smet war ein großgewachsener Mann mit ledrig wirkender Haut.
»Herr Kapitän?«
»Ich höre, dass du wie andere Lehrjungen einen Teil deiner Überfahrt erarbeiten wirst. Arne, unser Koch, kann noch Hilfe brauchen, der hat nur den Claas – und das ist ’ne halbe Portion. Also, geh ihm zur Hand, vernachlässige aber keinesfalls die Pflichten deinem Herrn gegenüber.«
Simon konnte seine Enttäuschung nicht verhehlen. Dass Nikolas ihn bereits bei der Überfahrt auf Trab halten würde, hatte er erwartet. Aber dass er ausgerechnet dem Koch zur Hand gehen sollte? Konnte er nicht eine aufregende Aufgabe übernehmen? Neidvoll hatte er beobachtet, wie die Schiffsjungen sich am Tauwerk und dem Segel zu schaffen machten oder behände wie Eichhörnchen den Mastkorb erklommen. Das wären Arbeiten nach seinem Geschmack.
»Könnte ich nicht ...« Nikolas’ Schlag traf ihn direkt auf den Mund. Er schmeckte sofort Blut.
»Die Widerworte werde ich dir austreiben! Tu, wie dir geheißen.«
Simon starrte auf die Bohlen, entfernte sich mit vor Groll gespanntem Körper. Nikolas würde ihn nicht kleinkriegen.
Erst in der Mitte des Decks sah er wieder auf. Der Anblick, der sich ihm bot, lenkte ihn von seinem Zorn und den Schmerzen ab. In der hügeligen Landschaft zeichneten sich die Umrisse von Travemünde ab, der schönsten Schwester Lübecks, wie sein Vater den kleinen Ort bei einem gemeinsamen Besuch genannthatte. Er konnte bereits den Kirchturm von Sankt Lorenz und die Vorderreihe mit dem Haus des Vogtes erkennen. An den Dalben hatten größere Schiffe festgemacht, an den Stegen kleinere wie Prahme und Leichter. Auf der anderen Seite befand sich die dünenartige Halbinsel Priwall mit dem Leuchtturm, der, wenn man den Erzählungen Glauben schenken durfte, so hoch aufragte wie das Gewölbe der Lübecker Marienkirche.
›Wenn wir auf die Weite der Ostsee hinausfahren und uns gen Fehmarn halten, ist es so weit, dann werde ich dort sein, wo ich noch nie war‹, dachte Simon.
Nur mühsam riss er sich von der schönen Aussicht los. Er erreichte die Herdstelle gleichzeitig mit einem schwankenden Stapel Feuerholz auf Beinen.
»Komm, ich nehme dir etwas ab.«
Simon wischte sich das Blut von den Lippen und wollte mitanfassen, doch der Holzstapel bewegte sich einen Schritt zur Seite und ging schließlich krachend neben dem Herd zu Boden. Ein spitznasiger Junge mit großen dunklen Augen und abstehenden Ohren kam zum Vorschein. Er war etwa zehn Jahre alt und sah ihn mit einer Mischung aus Misstrauen und Trotz an.
Simon versuchte ein Lächeln, doch die geschwollenen Lippen spannten schmerzhaft. »Bist du Claas? Ich bin Simon. Der Schiffer hat mir aufgetragen, hier zu helfen. Obwohl ich lieber etwas anderes machen würde als langweiligen Küchendienst.«
Hinter ihm schnatterte es schrill. Simon wandte sich um. Der Koch stand vor ihm, auf beiden Seiten heftig umflattert. Arne war ein kleiner magerer Mann mit blutunterlaufenen Augen und hohlen Wangen, um die Hüfte trug er eine abgenutzte Lederschürze. Die Gänse in seinen Händen schlugen wild mit den Flügeln, doch der Griff, mit dem der Koch ihre Füße umklammert hielt, war zu fest.
»Langweiliger Küchendienst, wie? Dann mach mal dieseGänse hier tot und nimm sie aus, großer Abenteurer. Die leicht verderblichen Waren müssen zuerst weg.«
Claas scharrte mit dem bloßen Fuß auf dem Deck, als ob dort etwas besonders Interessantes zu sehen wäre, doch der Koch hielt beiden Jungen jeweils einige Gänse hin. Zu zögerlich griffen sie zu, schon im nächsten Augenblick hatte eines der Tiere Claas in die Hand gebissen und war seinem Griff entwischt. Bei dem Versuch, sie wieder einzufangen, flatterten auch die anderen Gänse davon. Simon mühte sich mit Claas, sie einzufangen und gleichzeitig seine Gänse festzuhalten,
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