Hansetochter
Testamentsvollstrecker Bruno Diercksen? Kam aus den gleichen Gründen nicht infrage. Henrike spürte, wie die Verzweiflung in ihr Übermacht zu gewinnen drohte, da hörte sie Ilsebe und Telse kreischen und lief nach oben.
~~~
So erregt hatte sie weder ihre Tante noch ihre Base je erlebt. Ilsebe hatte die Hand in Telses Haare gekrallt und auf sie eingeschrien, ihre Tochter hatte gebrüllt, das Gesicht verzerrt vor Schmerz und Wut. Henrike hatte versucht, die beiden zu trennen, sich dabei aber selbst einige Ohrfeigen eingefangen. Schließlich hatte Ilsebe ihre Tochter in ihre Kammer geschleift und dort eingesperrt. Mit Henrike allein war sie dann in die Küche gegangen. Zu zweit hatten sie am Tisch gesessen und sich angeschwiegen. Henrikes Vorschlag, der Base etwas zu essen zu bringen, war von ihrer Tante abgelehnt worden. Henrike verstand nicht, was zwischen den beiden Frauen vorgefallen war. Aber sie hatte auch nicht die Ruhe, sich eingehend damit zu befassen, musste sie selbst sich doch mit drängenderen Problemen beschäftigen. Immer wieder hatte Henrikes Magen rebelliert, hatte sich ihr Hals zusammengeschnürt. Ihre Tante hatte allein eine ganze Karaffe Wein geleert und war schließlich in ihre Kammer geschwankt. Endlich konnte auch Henrike sich zurückziehen.
Nun lag sie in ihrem Bett, malte sich die Schrecken der Zukunft aus und wartete darauf, dass die Geräusche im Haus verstummten. Sie hatte erwogen, in das Gasthaus zu gehen und den Mann um Aufschub oder Gnade zu bitten. Aber darauf würde er sich nicht einlassen, das ahnte sie. Er hatte es darauf angelegt, sie in diese Lage zu bringen, das war Henrike inzwischen völlig klar. Und nach reiflicher Überlegung wusste sie, dass es nur noch einen Menschen gab, den sie um Hilfe bitten konnte. Einen Menschen, der ihre Familie gut genug kannte, um ihr zu helfen, und kein Interesse daran hatte, ihr zu schaden. Sie konnte es kaum erwarten, zu ihm zu gehen, um die Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen.
Als Henrike nur noch das Streichen des Windes um die Fensterläden und das Trappeln der Mäuse im Gebälk hörte, erhob sie sich, warf sich ihre Heuke über, zog die Kapuze tief ins Gesicht und lief hinaus. Auf den Straßen waren noch etliche Menschen unterwegs, um die Henrike einen Bogen machte.
In dem Haus in der Mengstraße brannte zum Glück noch Licht. Ein glatzköpfiger Mann öffnete die Tür und ließ sie ein. Adrian Vanderen stand in der Tür seiner Schreibkammer und sah sie verwundert an.
»Jungfer Henrike. Was macht Ihr denn hier? Was ist geschehen?«
Henrike konnte die Tränen nicht zurückhalten, so sehr sie sich auch bemühte.
Adrian kam zu ihr, zögerte kurz, legte dann aber tröstend den Arm um ihre Schulter. Henrike spürte, wie ihre Beklemmung ein wenig nachließ. Er würde ihr helfen, ganz sicher würde er das.
»Kommt erst einmal herein. Cord, bring uns etwas von Margaretes gutem Kirschtrank.«
Er führte sie in die Dornse, die von verschiedenen Leuchtern heimelig erhellt war. Auf dem Tisch lagen ein angefangener Brief und ein Handelsbuch. Jetzt erst ging ihr auf, wie unschicklich dieser Besuch war. Sie allein, bei einem Mann. Was würde ihre Tante dazu sagen? Und die anderen Klatschweiber? Auch Adrian Vanderens Ruf konnte dieser Besuch schädigen, und das, wo er doch vermutlich seine Heirat vorantrieb. Henrike machte Anstalten, wieder zu gehen.
»Ich sollte nicht hier sein«, sagte sie, aber Adrian drückte sie sanft auf den Armstuhl.
»Etwas Wichtiges hat Euch hierher geführt, also habt Ihr auch Grund, hier zu sein.«
»Aber Euer Ruf ... und meiner.«
Adrian lachte hell. »Mein Ruf sollte Euch nicht sorgen. Und wenn jemand tatsächlich danach fragen sollte, dann sagen wir eben, Ihr hättet Eure alte Köchin besucht.«
In diesem Augenblick kam Margarete herein. Als sie Henrike erkannte, stürzte sie zu ihr, um sie zu trösten, was Henrikes Tränen nur noch mehr zum Sprudeln brachte.
»Was ist nur los, Mädelken? War es dieser afschuweliche Nikolas – hat er dich wieder bedrängt – oder etwa sein grässlicher Vater?«, erkundigte sich die Alte grimmig.
Henrike schüttelte den Kopf. »Die sind beide nicht da, glücklicherweise. Nein. An dem Unglück, das mich herführt, bin allein ich schuld, ganz allein.«
Entschlossen, nicht mehr zu weinen, wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Cord schenkte den Kirschtrank in hohe, verzierte Gläser, während Adrian sich einen Stuhl heranzog und sie
Weitere Kostenlose Bücher