Hansetochter
erhob sich, für das Konfekt hatte er keinen Blick mehr. »Oh ja, es kann so viel passieren. Dafür werden ich und Rotger schon sorgen.«
~~~
Henrike erwachte, als sich jemand an ihrer Hüfte zu schaffen machte. Was war los?, wunderte sie sich benommen. Sie bewegte sich, wollte sich entziehen, doch es hörte nicht auf. Ihre Lider flatterten. Um sie herum war es dunkel, das Licht einer Kerze warf zuckende Schatten um sie. Wie warm und stickig es hier war, und wie sehr ihr Kopf brummte! Wie durch einen Schleier nahm sie den Mann wahr, der sich über sie beugte, ihr Gesäß vom Boden hob, an ihren Beinlingen zog. Beinlinge! Mit einem Schlag kam die Erinnerung zurück. Sie wollte die Hände heben, sich wehren, konnte sie jedoch nicht lösen. Sie war gefesselt! Der Mann sah auf – es war Rotger! Sie wollte schreien, doch der Stoffballen, der ihren Mund ausfüllte, ließ nur ein verzweifeltes Brummen hindurch. Der Gehilfe ihres Onkels lachte gehässig und riss ihren Gürtel auf.
Henrike wusste, dass sie ruhig bleiben musste, um ihn nicht noch mehr zu reizen, aber sie schaffte es nicht. Panisch strampelte sie, versuchte verzweifelt zu schreien. Sie schlug den Kopf von einer Seite zur anderen, suchte nach etwas, das ihr helfen könnte. Aber da waren nur die Kerze, eine Schale und ein blutiges Tuch. Rotger wollte gerade seinen Bruch abnesteln, um sich zu entblößen, da ließ ein Ruf ihn innehalten.
»Rotger, wie weit oben bist du denn? Wie ungezogen von dir!«
Eilig schloss der Gehilfe die Nesteln wieder. Missmutig brummend nahm er die Kerze und erhob sich. Henrike folgte mit ihrem Blick dem Lichtschein. Sie sah schräge, unverputzte Wände, Holzbalken. Jetzt fiel das Licht auf ein Winderad, die Klappen einer Luke, einen Treppenaufgang. Alles kam ihr bekannt vor – es sah aus wie der Dachboden ihres Elternhauses in der Alfstraße! Doch das konnte eigentlich nicht sein, es war doch nicht mehr ihr Haus. Andererseits glichen sich die Speicherböden vieler Kaufmannshäuser. Ein weiterer Lichtkreis war nun zu sehen. Eine Frauengestalt schien vom Boden aufzusteigen – Tante Ilsebe. Unbändiger Hass durchfuhr jede einzelneAder ihres Körpers. Am liebsten hätte Henrike ihre Tante auf der Stelle zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen musste sie zusehen, wie Ilsebe Rotger entgegenging und sie sich leise unterhielten.
»Bist du schon bereit für deine Herrin, du Flegel? Soll deine Herrin dich strafen?«, hörte sie Ilsebe mit belegter Stimme fragen.
Was ging zwischen den beiden vor? Und was sollte sie selbst bloß tun? Henrike überlegte fieberhaft. Wenn sie sich still verhielt, würde Ilsebe sie vielleicht gar nicht bemerken, aber dann wäre sie weiter in Rotgers Gewalt. Es war aber auch fraglich, was Ilsebe tun würde, wenn sie erfuhr, dass Henrike bei Mette gewesen war – und das musste Rotger ja herausgefunden haben, sonst hätte er sie kaum überwältigen können. Sie befand sich in einer Zwickmühle.
Henrike drehte ihre Hände in den Fesseln. Sie schnürten in ihre Haut und ließen ihre Finger anschwellen. Aber sie spürte auch, dass Onkel Hartwigs Gehilfe den Knoten hastig und mit wenig Sorgfalt gebunden hatte. Mit aller Kraft versuchte sie, auf einer Seite eine kleine Schlaufe zu bilden, um wenigstens die eine Hand freizubekommen. Gleich, gleich würde sie es schaffen. Sie riss ihren Arm zur Seite. Er löste sich mit einem Ruck aus der Fessel ... und schlug dabei die neben ihr stehende Schale mit einem unüberhörbaren Poltern um. Schnell wollte Henrike aufspringen. Als sie aber ihren Oberkörper hob, wurde ihr erneut schwindelig. Die beiden waren durch den Krach auf sie aufmerksam geworden und kamen nun näher. Rasch schob Henrike ihre Hände wieder hinter den Rücken. Wenn sie schon nicht fliehen konnte, mussten sie nicht auch noch wissen, dass sie sich befreit hatte.
»Was ist da los?« Die Stimme ihrer Tante erstarb, als sie Henrike bemerkte. Ilsebe ließ den Blick von Rotger zu Henrike und wieder zurück wandern. »Was macht sie hier?«, fragte sie streng.
Da brach sich Henrikes Groll Bahn. »Ich war bei Mette, bevor mich dein feiner Galan überfallen hat. Ich weiß jetzt, was geschehen ist. Du hast meinen Vater vergiftet!«, rief sie ihre Vermutung heraus.
Ilsebe lachte bellend. »Na und?«
»Du leugnest es nicht einmal?«
»Warum sollte ich? Dir gegenüber ist es kein Risiko. Als du zu Mette gegangen bist, hast du selbst den Stab über dich gebrochen. Rotger, töte sie! Das hättest du
Weitere Kostenlose Bücher