Hansetochter
nächsten Tagen zu bewältigen hatte. Die wichtigen Gespräche, die er mit den Beratern des Kaisers und dem Kaiser selbst führen würde. Konrad Vresdorp bemerkte, dass Henrike ihre linke Augenbraue leicht hochgezogen hatte, wie immer, wenn ihr etwas missfiel. Und er stimmte ihr zu: Auch ihn verdross, wie Perceval sich wichtigmachte, ganz so, als würde es bei diesem Besuch nicht etwa um den Kaiser, sondern um ihn gehen. Ihm waren Männer wie sein alter Freund Symon Swerting lieber, auf die man sich verlassen konnte und die anpackten, wenn es nötig war. Es wunderte ihn wenig, dass sich auch Swerting und Adrian Vanderen kannten und mochten; ehrliche Männer gewahrten einander. Sobald Symon Swerting von seiner Mission im Auftrag des Rates zurück war, würden sie sicher so manchen geselligen Abend miteinander verbringen.
Henrike lachte höflich über eine Bemerkung Percevals, warf ihrem Vater jedoch einen sprechenden Blick zu. Seine Tochter besaß einen scharfen Verstand und ein Gespür für Menschen, das war in seinem Beruf unabdingbar. Als Kaufmann musste man nicht nur erstklassige von minderwertiger Ware unterscheiden und einen Kauf genau durchrechnen können, man musste auch in sein Gegenüber hineinblicken und erkennen können, ob es der andere ehrlich meinte oder betrog. Henrike schien diese Fähigkeiten zu besitzen. Sie schrieb, rechnete, hatte Kenntnis verschiedener Sprachen. Im Gegensatz zu Simon brauchte sie im Unterricht kaum auswendig zu lernen, vielmehr schien ihr alles zuzufliegen. Eine richtige Tochter der Hanse war sie. Manchmal glaubte er, dass sie selbst noch nicht wusste, welche Fähigkeiten in ihr schlummerten, ebenso wenig wie sie zu wissen schien, wie liebreizend sie auf andere wirkte. Wenn es so kam, wie er hoffte, würde sie einen Mann finden, der ihr Wesen, ihre Schönheit und ihr Wissen zu schätzen wusste, der sie in seine Geschäfte einband und ihre Hilfe zuließ, wenn er selbst auf Reisen war. DieserMann musste gefunden werden. Doch eines musste auch Konrad Vresdorp sich eingestehen: Ihm fiel es schwer, anderen in die Seele zu schauen, wenn es um seine Tochter ging. Er liebte sie so sehr, und er wollte keinen Fehler machen, was ihre Zukunft anging.
Konrad Vresdorp trocknete sich die Hände ab und nahm ein Stück von dem Brot, das in der Mitte des Tisches kunstvoll aufgestapelt war. Plötzlich erinnerte er sich tagträumend wieder an seine Henrike als kleines Kind, wie sie sich im Warenlager an Ballen hochgezogen hatte und über Pakete gekrabbelt war. Einmal hatte er sie als Zweijährige bei dem Versuch ertappt, einen Fässerstapel zu erklimmen. Sie war schon fast oben angekommen, als er sie entdeckt hatte – und ihm war beinahe das Herz stehen geblieben! Wenn nur ein Fass ins Wanken gekommen wäre, hätten die Bottiche sie unter sich begraben und zerquetscht. Er hatte mühsam seine Stimme gezügelt und leise ihren Namen gerufen. Henrike hatte sich auf den Rand des obersten Fasses gesetzt, ein Lied gesungen, die kleinen Beine baumeln lassen und ihn fröhlich angeblickt. Er hatte sie gebeten, vorsichtig herunterzukommen, doch sie hatte nur gelacht, für sie war alles nur ein Spiel. Als seine Stimme immer ängstlicher geworden war, war sie schließlich langsam heruntergekrabbelt, bis er sie endlich ergreifen und in seine Arme schließen konnte. Sie und ihr Bruder waren das Wertvollste, das er besaß, waren es immer gewesen. Aber sein Sohn hatte noch Zeit, ihn brauchte er noch nicht loszulassen. Simon hatte seine Lehrzeit gerade erst begonnen. Er sollte sie in Ruhe zu Ende führen und dabei Schritt für Schritt wachsen können. Henrike hingegen musste er langsam aus seiner Obhut entlassen, in die Hände eines anderen Mannes – aber in wessen nur?
Für einen Moment lauschte er Adrian Vanderen, der auf dem Ehrenplatz neben ihm saß. Adrian war in ein Gespräch mit dem Ratsherrn Bruno Diercksen vertieft, einem von Konrad Vresdorps Vertrauten. Diercksen war ein alter, würdiger Herr von beträchtlicher Leibesfülle mit einem breiten Backenbart, der sich nur noch mit Hilfe eines silbern beschlagenen Stockes fortbewegen konnte. Er hatte bereits eine Fülle von Ämtern bekleidet und setzte sich beharrlich für das Wohl Lübecks ein. Bruno Diercksen kannte sich mit den Geschicken der Stadt aus wie kein zweiter, und Konrad Vresdorp hatte schon oft von seinen Kenntnissen Gewinn gehabt. Ein Gesprächsthema mieden sie derzeit allerdings, denn Diercksen hielt die abwartende Haltung des Rates in
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