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Hansetochter

Hansetochter

Titel: Hansetochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weiß
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unehrliche Herkunft büßen, indem er ihm die Gebete einprügelte. Damals hätte man den kleinen Jost aus dem Schlaf reißen können, und er hätte, ohne auch nur einmal zu stocken, das Ave Maria vorwärts und rückwärts aufsagen können.
    Josts Hände verkrampften sich, wenn er an den Bäcker dachte. Wenn der Handwerksmeister des Nachts in ihre Kammer kam und ins Bett seiner Mutter stieg, musste Jost sich mit dem Gesicht zur Wand stellen und beten. Stotterte er oder sah er sich um, setzte es Prügel. Also hatte er auf die Risse im Putz gestarrt, hatte das Weinen seiner Mutter gehört und das Stöhnen des Mannes. Hatte es ertragen, wenn seine Füße vor Kälte gefühllos wurden. Hatte die Scham ertragen, auch die Wut. Wie gerne hätte er ihr geholfen. Aber was hätte er denn tun können? Er war doch nur ein Kind gewesen! Wenn der Mann endlich ging, war der Junge zu seiner Mutter ins Bett gekrochen, und während sie seinen durchgefrorenen Körper wärmte, hatte er ihre Tränen getrocknet. Er hatte so wenige Erinnerungen an seine Mutter, warum mussten ihm gerade diese bleiben?
    An dem Tag, als seine Mutter gestorben war, hatte der Bäcker ihn kurzerhand hinausgeworfen. Damals war Jost wohl sechs Jahre alt gewesen, hatte nicht gewusst wohin. In seiner Verzweiflung war er zu dem Kloster gelaufen, das seine Mutter einmal erwähnt hatte, doch dort hieß es, der gesuchte Priester sei verstorben. Jost war umhergeirrt, hatte sich von Beeren und Nüssen ernährt. Er hatte einen Höker verfolgt, der von Dorf zu Dorf zog. Hatte sich nützlich gemacht. Schließlich war er in Lübeck gelandet. Jost hatte gebettelt und auf dem Markt aus den Abfällen alles herausgeklaubt, was noch brauchbar war, um es zu verkaufen. Er schämte sich dafür, dass er im Unrat gewühlt hatte, auch wenn Konrad Vresdorp später versucht hatte, ihm diese Scham zu nehmen. ›Du hast nur das getan, was nötig war, um zu überleben‹, hatte der Kaufmann gesagt.
    Ein leises Lächeln zog über Josts Gesicht, als er an die erste Begegnung mit Konrad Vresdorp dachte. ›Du bist gewitzt, Junge‹, hatte dieser gesagt, ›du könntest einmal einen guten Kaufmann abgeben.‹ Er hatte ihn erst zu seinen Knechten gegeben und später, als Jost sich bewährt hatte, als Lehrjungen aufgenommen. Und jetzt war sein Wohltäter tot, viel zu früh gestorben. Aber Konrad Vresdorp würde ihm mit seinem Nachlass ein letztes Mal helfen, das hoffte Jost zumindest. Mit dem geerbten Geld könnte er Waren kaufen und gewinnbringend verkaufen. Könnte erste Handelspartner finden und vielleicht selbst ein erfolgreicher Kaufmann werden. Zunächst würde er freilich in diesem Hause weiterarbeiten müssen, unter Hartwig Vresdorps Führung. Aber irgendwann, hoffentlich bald, würde er auf eigenen Füßen stehen. Schon malte Jost sich aus, wie er wohlhabend sein und um Henrikes Hand anhalten würde. Dann wäre er am Ziel seiner Wünsche! Er musste ihr unbedingt sagen, wie es um ihn stand, damit sie wusste, dass es auch jetzt, wo ihr Vater tot war, noch immer jemanden gab, der immer für sie da sein würde.
    Gerade begleitete Henrike Jacob Plescow den Jüngeren hinaus. Der Sohn des Bürgermeisters hatte mit ihnen einige Gebete gesprochen, denn dieser Plescow würde wohl nicht in die Fußstapfen des Vaters treten, sondern Geistlicher werden. Sein Verwandter Jordan dagegen hatte das Zeug zu einem guten Kaufmann und Ratsherrn, das hatte Jost seinen Herrn oft sagen hören. Viele waren gekommen, um an Konrad Vresdorps Leichnam Wache zu halten, aber die meisten Nachbarn und Geschäftspartner waren nur kurz geblieben. Was konnte man auch erwarten, bei den gesellschaftlichen Verpflichtungen zur Zeit des Kaiserbesuchs?
    Als Jost bemerkte, dass Ilsebe und Telse Vresdorp ins Gebet vertieft waren, sah er seine Gelegenheit gekommen. Er erhob sich leise und schlich hinaus. Wo war Henrike? In der Schreibkammer flackerte ein Licht. Er sah einen Schatten und ging darauf zu. Sie saß im Armstuhl, die Beine angezogen, die Knie umarmend. Er bemerkte, wie ihre Schultern bebten, und hockte sich leise vor ihr auf den Boden. Zögernd berührte er ihren Arm. Henrike zuckte zusammen, sah ihn aus geschwollenen, nass glänzenden Augen an. Einige Strähnen ihres Haares hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und umspielten ihr Gesicht, ihre Lippen waren leicht geöffnet. Sein Herz schlug schneller, seine Haut begann zu jucken. Wie so oft verfluchte er diese Pein, für die es keine Linderung zu geben schien. Jost wünschte,

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