Hansetochter
da – los, mach dich nützlich. Deine Mutter hatte doch diesen schönen Psalter, bring ihn her.«
Simon zögerte. »Mutters Psalter?«
»Sagte ich doch! Bist du schwer von Begriff?«
Henrike nickte ihrem Bruder zu. »Mach ruhig, Simon, du kannst uns daraus vorlesen, während wir Vater ... den Leichnam ... waschen.«
Ihr Bruder ging in die Schreibkammer des Vaters. Er kam mit dem kleinen Buch zurück, das er behutsam in den Händen hielt. Bücher waren selten und kostbar. Dieses war von einer kunstfertigen Hand geschrieben und mit zahlreichen kleinen Malereien versehen. Oft hatte seine Mutter darin gelesen oder ihnen die biblischen Psalmen vorgetragen, jetzt würde er es tun. Seine Stimme zitterte, als er zu lesen begann.
Margarete schleppte einen Eimer Wasser herein und reichte Ilsebe und Telse Vresdorp einige Tücher. »Das wurde aber auch Zeit!«, maßregelte ihre Tante die alte Dienerin. »Bring uns Wein, es ist trockene Luft hier. Aber nimm erst diesen Wandbehang da ab – schmutzige heidnische Sagen schicken sich nicht in einem Totenhaus.«
Meinte sie tatsächlich die Darstellung eines Einhorns, flankiert von einer männlichen und einer weiblichen Gestalt, die durch ein Seil miteinander verbunden waren? Margarete warf Henrike einen fragenden Blick zu. Die junge Frau hob ratlos die Schultern. Sie könnte den Wandbehang, den ihr Vater so gerne und oft betrachtet hatte, ja später wieder aufhängen.
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Da war sie wieder, Henrike. Schön und traurig wie eine Madonna. Jost hielt weiterhin den Kopf über den gefalteten Händen gesenkt und beobachtete sie verstohlen. Der Kummer und die am Leichnam durchwachte Nacht waren ihr anzusehen. Aufmerksam hatte sie alle begrüßt, die an dieser Totenwache teilnehmen wollten und doch nie vergessen, auch ihren Bruder zu trösten. Simon wirkte, als habe er noch gar nicht begriffen, dass sein Vater tot war. Sie war für alle da; wer aber tröstete Henrike? Ihre Verwandtschaft schien mit anderem beschäftigt.
Ilsebe Vresdorp plusterte sich auf und bewirtete die Gäste. Hartwig Vresdorp stieß mit jedem willig an, sie hatten schon das zweite Fass des guten Rheinweins anstechen müssen. Als Bruder des Verstorbenen hatte er entsetzlich lange mit einem Vikar der Marienkirche darüber verhandelt, wie viele Kerzen bei dem Begräbnis auf dem Altar stehen sollten und was siekosten würden – dabei war es doch nicht sein Geld, um das es ging! Jost kannte den letzten Willen, er wusste, dass sein Herr alle frommen Stiftungen der Stadt bedacht und auch Fürbitten für sein Seelenheil in Auftrag gegeben hatte. Telse schluchzte so übertrieben laut, dass ihr breiter Busen bebte, aber immerhin hatte sie das eine oder andere Mal die Hand ihrer Base gehalten. Und dann war in dieser Nacht auch noch Nikolas aufgetaucht. Hartwig Vresdorps Sohn war in Schonen gewesen. Der Gestank der Heringe, die er nach Lübeck verfrachtet hatte, saß ihm noch in den Kleidern. Er hatte Henrike mit einem derart lauernden Blick bedacht, dass selbst Jost sich dabei unwohl gefühlt hatte. Zumindest war er kein Konkurrent für ihn. Henrike und Nikolas waren zu eng verwandt für eine Heirat, im Gegensatz zu diesem Adrian Vanderen, der jetzt ja glücklicherweise aus dem Haus war. Jost dachte an die Schriftstücke, und der Anflug eines schlechten Gewissens überfiel ihn. Er hätte sie nicht an sich nehmen dürfen ... Aber nein, jetzt, wo sein Herr tot war, war es am besten so, beruhigte er sich und schlug ein Kreuz auf der Brust. Er wusste, dass auch er von seinem verstorbenen Herrn etwas Geld erben würde, es sei denn, dieser hätte jüngst seinen letzten Willen geändert.
Konrad Vresdorp war wie ein Vater für ihn gewesen. Jost erinnerte sich noch gut daran, wie er nach dem Tod seiner Mutter durch die Straßen der Stadt gestolpert war. Wie er vor Hunger nicht ein noch aus gewusst hatte. Er hatte auf dem Markt gebettelt. Man hatte ihm, dem kleinen Jungen, der so schön Gebete zu sprechen wusste, gern gegeben. Denn das war das Einzige gewesen, was ihm sein Stiefvater beigebracht hatte. Sein richtiger Vater war ein junger Priester gewesen, hatte ihm seine Mutter einst erzählt. Er konnte gut sprechen und war schön anzuschauen. Verführt hatte er sie, die Bäckermagd. Doch als ihr Bauch sich von der Schwangerschaft zu wölben begann, war er verschwunden. Der Bäckermeister hatte zu ihr gehalten, ließ sie weiter beisich arbeiten und erzählte, sie sei verwitwet. Das Kind ließ er jedoch für die
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