Hansetochter
Eichenwald, damit sie sich an den Eicheln fett fressen konnten. Kraniche zogen, trompetenähnliche Laute aussendend, über sie hinweg.
»Eine Frau muss tugendsam und keusch sein. Du hast die Augen stets niederzuschlagen. Du solltest schweigsam sein oderzumindest wenig sprechen.« Seit sie im Wagen Platz genommen hatten, redete ihre Tante unentwegt auf sie ein, zählte auf, wie sie sich als gute Frau zu verhalten hatte. ›Sie scheint es zu genießen, dass ich ihr hier nicht entkommen kann‹, dachte Henrike bei sich. Ihre Tante rieb ihre Hände, vermutlich schmerzten die geschwollenen Gelenke von der feuchten Kälte und den Stößen des Wagens.
»Wenn du deinen Platz in der Welt finden willst, musst du lernen, dich zu fügen. Fügsam und fromm zu sein, das ist alles, was für dich zählt. Nun, wo dein Vater tot ist, wird es schwer genug, einen Ehemann für dich zu finden, so sehr sich dein Onkel auch anstrengen mag. Sonst bleibt für dich nur das Kloster. Oder du musst irgendwann in Telses Haushalt bleiben, denn dass sie heiraten wird, ist gewiss. Nutze die Zeit der Abgeschiedenheit, um in dich zu gehen. Und wenn wir dich nach Lübeck zurückholen, wirst du als züchtige junge Frau den Platz finden, der dir zusteht.«
Henrike sah in die Wiesentäler und Wälder hinaus und hing den Worten ihrer Tante nach. Nein, als alte Jungfer in Telses Haus leben und von dem Wohlwollen ihrer Verwandten abhängig sein, das wollte sie nicht. Und ins Kloster wollte sie auch nicht. Konnte es so schwer sein, den Erwartungen zu entsprechen, die man an sie hatte? Andere Patriziertöchter schafften es doch auch.
Sie fuhren an einem Buchenwald entlang. Orange-rot strahlten die Blätter gegen den grauen Himmel. Ein Hase querte in weiten Sprüngen ihren Weg, Abzweigungen führten zu Höfen. Henrikes Hintern kribbelte vom unbequemen Sitzen, es musste schon weit nach Mittag sein. Sie war hungrig und musste austreten, aber ihre Bitte nach einem kurzen Halt hatte die Tante ausgeschlagen. Die eigenen Bedürfnisse zu beherrschen, den schwachen Körper unter Kontrolle zu halten, sei oberste Pflicht, hatte sie gemeint.
Endlich hielten sie an. Henrike kletterte vom Wagen, lief ein Stück in den nahen Wald und hockte sich hinter einen Busch. Als sie sich erleichtert hatte und wieder aufrichtete, entdeckte sie unversehens ihren Vetter Nikolas. Er lehnte an einem Baum, strich über sein schmales Bärtchen und beobachtete sie beifällig. Sein Blick gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie richtete ihre Röcke und wollte an ihm vorbeigehen, als er ihren Arm packte.
»Hübsch geworden ist die kleine Henrike, während ich auf Reisen war. Alles dran. Bist du denn schon gepflückt worden?« Er zog sie an sich.
Henrike war überrumpelt. Sie hatten seit Jahren kaum miteinander gesprochen, sich fast nie gesehen. Was meinte er mit seinen Worten? Was wollte er von ihr? Es klang auf jeden Fall unangenehm.
»Wir müssen weiter, Vetter!«, sagte Henrike und versuchte, sich loszumachen. Er lachte und legte den Arm um ihre Hüfte, seine andere Hand wanderte ihren Körper hinab.
»Keine Eile. Mutter vermisst uns nicht.« Sie wand sich, doch er drückte sie an den Baum. Sie spürte seine kräftige Hüfte an ihrer und seinen Atem an ihrem Hals. Panik überfiel sie. Sie wehrte sich heftiger, doch gleichzeitig zwängte er sie mehr ein.
»Denkst du, du könntest mir entwischen, wie früher? Ein freches kleines Ding warst du. Aber heute bin ich der Stärkere.«
Seine Hand hatte ihre Brust erreicht, umschloss sie fest. Sie holte unwillkürlich mit ihrem Kopf aus, traf ihn am Kinn. Er stieß einen überraschten Laut aus. Für einen Augenblick lockerte sich sein Griff. Henrike riss sich los und rannte davon. Laub knirschte hinter ihr, Äste brachen, doch dann erreichte sie zu ihrer großen Erleichterung die Lichtung mit dem Wagen. Ihre Tante sah auf, als ob man sie bei etwas ertappt hätte. Ilsebe Vresdorp saß auf der Wagenkante, auf ihrem Schoß lagen Käse und Weißbrot. Ihr Schreck wandelte sich schnell in Entrüstung.
»Du siehst ja aus wie eine Bauernmagd! Warum ist dein Gesicht fleckig, die Kleidung unordentlich? Lernst du denn nie?«, fauchte sie.
Henrike überlegte fieberhaft, ob sie die Wahrheit sagen sollte. Doch bevor sie antworten konnte, hatte ihr Vetter sie erreicht. Er warf Henrike einen drohenden Blick zu, aber sie hielt ihm stand. Er sollte nicht wissen, wie sehr sein Verhalten sie ängstigte.
»Meiner Base ist ein Ast ins Gesicht geschlagen, als sie ihr
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