Hansetochter
Geschäft verrichten wollte. Ich habe ihr aufgeholfen und sie bei der Gelegenheit gleich an die Sünden der Welt erinnert. Sie scheint so Vieles vergessen zu haben«, sagte er und strich sich über das Kinn.
Ilsebe Vresdorp tätschelte zufrieden den Arm ihres Sohnes. »Wirklich lobenswert von dir«, sagte sie und ließ sich vom Wagen gleiten. »Esst etwas, und dann lasst uns alle zum heiligen Vizelin beten, der für die Befreiung dieses Landstrichs gekämpft hat und unsere Reise beschützen möge.«
Während des letzten Abschnitts ihrer Reise schwärmte ihre Tante in einem fort von dem Mut des heiligen Vizelin, der vor etwa zwei Jahrhunderten die Heiden in diesem Gebiet bekehrt hatte. »Sankt Vizelin war ein wahrer Apostel der Slawen und hat viele Klöster und Kirchen gegründet. Als Bischof war er so fromm, dass er nicht in einem Palast lebte oder in einer stolzen Burg, wie manche seiner Amtsbrüder, sondern in einer großen Buche und in einer Strohhütte. Wusstest du, Henrike, dass er in Lübeck vor allem in der Kirche Sankt Johannis zu predigen pflegte?«
Henrike starrte auf den Fluss, der sich in der Nähe des Weges durch die Landschaft schlängelte. Er war von hohem Gras umgeben, immer wieder stiegen Vögel von ihm auf. Henrike tat so, als ob sie ruhig zuhörte, doch in ihr jagten sich die Gedanken. Sie musste ihrer Tante von dem Übergriff erzählen, aber letztlich wusste sie genau: Alle glaubten, dass eine Frau schuld war,wenn ein Mann sie bedrängte, denn sie musste ihn bezirzt haben. Frauen waren sündige Verführerinnen, die Töchter Evas eben. Nikolas’ Verhalten würde als Beweis ihrer eigenen Liederlichkeit gewertet werden. Ihr Vetter hieb auf den armen Bagge ein, doch der wollte nicht schneller laufen. Wie gerne wäre Henrike Nikolas in die Hand gefallen! Aber sie konnte und durfte es nicht. Bagge war zwar langsam, aber er war auch schon alt. Es hätte bessere Pferde im Stall des Vaters gegeben, doch die wurden für wichtige Warentransporte gebraucht.
»Henrike? Hörst du mir überhaupt zu?«, rief ihre Tante jetzt.
Henrike zuckte zusammen. »Doch, natürlich. Der heilige Vizelin und die Slawen. Aber das ist doch lange her, oder?«
Die Augen ihrer Tante verengten sich zu Schlitzen, und sie küsste das Kreuz, das sie um ihren Hals trug.
»Nicht lange genug. Es gibt noch immer Heiden, die uns vertreiben und Lübeck am liebsten zerstören würden. Oft genug haben sie unsere Stadt schon belagert. Doch der Herr war immer an unserer Seite, weil wir stark im Glauben sind. Auch du musst täglich den heiligen Vizelin um seine Stärke anflehen. Für das Gebet wirst du an der See Zeit genug haben. Wir hingegen müssen zurück in die Stadt mit ihren Anfechtungen ...« Es klang fast so, als ob sie Henrike beneidete.
Im letzten Licht der Dämmerung erreichten sie endlich den Gutshof. Sie fuhren durch eine Allee hoher Linden auf das reetgedeckte Haus zu, an das sich flache Ställe anschlossen. Links und rechts lagen bestellte Felder, Streuobstwiesen, Weiden und der Fischteich. Henrike konnte die großen, sich langsam hin- und herwiegenden Schatten von Pferden erkennen. Es roch würzig nach Buchenholz und einem flackernden Kamin. Trotzdem stellte sich bei dem Gedanken an die Wärme des Gutshauses bei Henrike kein heimeliges Gefühl ein. Zu sehr saß ihr der Schreck noch in den Gliedern.
Drei Hunde rannten ihnen entgegen, laut kläffend und ihrespitzen Zähne bleckend. Da das Pferd scheute, ergriff Nikolas die Peitsche vom Bock des Wagens. Eine Frauenstimme rief die Hunde zu sich, und sie gehorchten sofort. Fackeln tragende Gestalten näherten sich vom Gutshaus. Eine kleine zarte Frau ging voran. Ihr Aussehen glich dem einer Büßerin – ihr Gewand aus grobem Tuch war mit einem Seil geknotet, ihre Füße waren nackt –, und doch strahlte sie die gemessene Würde einer Gutsherrin aus. Knechte hatten sich in einigem Abstand hinter ihr aufgebaut, und auch die Hunde hatten sich um sie geschart und knurrten die Fremden nun an. Henrike erkannte jetzt, dass es Wolfsspitze waren, wie ihr Hofhund zu Hause in Lübeck.
»Eine falsche Bewegung, und ich hetze die Hunde und die Knechte auf euch! Wer seid ihr, und was wollt ihr hier?«, fragte die Frau.
»Ich bin Nikolas Vresdorp, im Wagen sitzen meine Mutter Ilsebe und meine Base Henrike. Wir bringen Nachricht und Ware aus Lübeck.«
Die Frau ging um den Wagen und leuchtete den Besuchern ins Gesicht, lange verharrte der Lichtschein auf Henrike, bis diese
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