Happy End am Mittelmeer
anzusehen, war ihm klar, dass wohl eher das ‚oder‘ zutraf. Aber egal, es hatte nichts zu bedeuten. Es lag nur daran, dass sie so natürlich und so völlig anders war als die Frauen, die er kannte. Schon seit Jahren war er mit einer Gruppe mondäner Intellektueller zusammen. Und das aus guten Gründen. Er hatte früh herausgefunden, dass man viele Informationen sammeln konnte, wenn man mit den richtigen Leuten zusammen war und zuhören konnte. Es gab eine große Lücke in seinem Leben. Deshalb musste er ganz spezielle Informationen einholen.
Vor fünfundzwanzig Jahren war er mitten in dieser Schreckensnacht aufgewacht und aus dem brennenden Schloss gestürmt, in dem er die ganzen sechs Jahre seines jungen Lebens verbracht hatte. Mittlerweile wusste er, dass etwa zeitgleich seine Eltern und wohl auch viele seiner Geschwister getötet wurden. In sein Zimmer aber war ein alter Mann gekommen, dessen Gesicht ihm nach wie vor in seinen Träumen erschien, und hatte ihm in dieser Nacht das Leben gerettet.
Nachdem ihn fremde Menschen von seinem Inselstaat in die Niederlande geschmuggelt hatten, landete er tags darauf, aufgewühlt und traumatisiert, bei der fröhlichen Familie Dykstra. Man sagte ihm, das sei sein neues Zuhause, seine neue Familie, und dass er nie mehr von Ambria sprechen, nie jemandem etwas aus seiner Vergangenheit erzählen dürfe. Die Menschen, die ihn dorthin brachten, tauchten unter und wurden nie mehr gesehen – zumindest nicht von ihm. Und plötzlich war er ein Dykstra, ein Holländer. Und er durfte keine Fragen stellen.
Die Dykstras waren gut zu ihm. Seine neuen Eltern schenkten ihm wirklich viel Liebe, aber es gab so viele Kinder in der Familie, man konnte leicht in der Menge untergehen. Alle mussten mit anpacken, und er lernte es, sich um die Jüngeren zu kümmern. Er lernte auch, zuzuhören und unauffällig Informationen zusammenzutragen. Von Anfang an wollte er herausfinden, was mit seiner Familie geschehen war, und mit möglichen Überlebenden Kontakt aufnehmen. Als er älter war, fing er an, die richtigen Leute zu treffen und das Vertrauen der Reichen und Mächtigen zu gewinnen. Und allmählich konnte er sich auch einiges zusammenreimen.
Im Laufe der Jahre schnappte er zahlreiche Gesprächsfetzen auf, die ihn zu Suchaktionen auf dem ganzen Kontinent veranlassten, bis er schließlich vor sechs Monaten erfolgreich war.
Er spielte gerade Tennis mit seinem Freund Nico, dem Sohn eines französischen Diplomaten, als der junge Mann auf einmal im Aufschlag innehielt und ihn mit dem Ball in der Hand musterte.
„Weißt du was …“, sagte er kopfschüttelnd, „… letzte Woche bei einem Abendessen in Paris traf ich jemand, der dein Zwilling hätte sein können. Es war beim Festbankett für den neuen Außenminister. Er sah fast aus wie du.“
„Wer? Der Außenminister?“
„Nein.“ Nico lachte. „Dieser Jemand. An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber er gehörte, glaube ich, zur britischen Gesandtschaft. Du hast nicht zufällig einen Bruder in der Regierung?“
Mittlerweile schlug Davids Herz so heftig, als wäre er gerade achthundert Meter in Rekordzeit gelaufen. Er wusste, dass dies vielleicht der Lichtstreif am Horizont war, auf den er gehofft hatte. Aber er musste cool bleiben und so tun, als wäre es nichts als ein Zufall. „Nicht, dass ich wüsste“, antwortete er also. „Alle meine Brüder sind erfolgreiche Geschäftsleute und leben in Amsterdam.“ Er lächelte betont lässig. „Und keiner sieht mir sehr ähnlich.“ Damit meinte er in Wahrheit seine Adoptivbrüder, doch niemand wusste, dass er kein leiblicher Sohn der Dykstras war, und es war ihm nur recht, dass es auch so blieb.
Nico zuckte die Achseln, schlug auf, und sie setzten ihr Match fort. David stellte zwar noch ein paar beiläufige Nachfragen, aber Nico konnte ihm nicht mehr sagen.
Trotzdem war es ein Anfang, und er konnte Nachforschungen anstellen. Zuerst besorgte er sich eine Namensliste aller Teilnehmer des Festbanketts. Anschließend suchte er im Internet nach Fotos von ihnen, bis er endlich glaubte, den Mann gefunden zu haben.
Sein Name war Mark Stephols. Er konnte sich täuschen, aber je öfter er sich die Fotos von ihm ansah, desto sicherer war David sich. Um aber absolut sicherzugehen, musste er Mark persönlich treffen.
Doch wie kam er an ihn heran? Er konnte doch nicht einfach bei einer Veranstaltung auf ihn zugehen und sagen: „Hallo, sind Sie mein Bruder?“ Denn wenn er es wirklich
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