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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Geschöpfe. Sofern man ihnen logische Anweisungen gibt, liefern sie logische Arbeit.
    Im nächsten Schritt fütterte ich den Computer, der dieses Pattern intus hatte, mit einer Black Box. Und er gab den Psychokern tatsächlich in Bildern wieder, ausgezeichnet. Sie waren natürlich äußerst fragmentarisch und chaotisch, im Rohzustand ohne jeden Sinn. Sie mussten ediert werden. So wie man einen Film ediert. Indem man Dubletten herausschneidet oder hinzufügt, indem man Bilder stehen lässt oder neu komponiert. So fügen sie sich zu einer Geschichte mit einem roten Faden.«
    »Zu einer Geschichte?«
    »So verwunderlich ist das gar nicht«, sagte der Professor. »Hervorragende Musiker setzen Bewusstsein in Töne um, Maler in Farben und Formen, Romanciers in Geschichten. Es ist dasselbe Prinzip. Natürlich gibt es dabei Aberrationen, und nicht alles lässt sich präzise verfolgen, aber im Großen und Ganzen kann man das Bewusstsein auf diese Weise sinnvoll erfassen. Bei der Betrachtung einer Folge bloß chaotischer Bilder, egal, wie präzise sie sind, bleibt man inhaltlich auf der Strecke. Präzision in allem und jedem ist nicht erforderlich. Die Visualisierung habe ich aus rein privatem Interesse betrieben, quasi als Hobby.«
    »Als Hobby?«
    »Früher – vor dem Krieg schon – war ich mal so was wie Assistenzcutter beim Film, ich mache solche Arbeiten deshalb wirklich gut. Chaos ordnen, meine ich. Ich habe mich in mein Labor zurückgezogen und ganz alleine ediert, ohne die anderen Mitarbeiter. Ich glaube nicht, dass jemand weiß, was ich da gemacht habe. Die visualisierten Daten habe ich als Privatsachen unter der Hand mit nach Hause genommen. Sie gehören mir.«
    »Haben Sie alle sechsundzwanzig zerebralen Strukturen visualisiert?«
    »Ja. Alle. Ich habe jede mit einem Titel versehen, der zugleich Titel der jeweiligen Black Box wurde. Ihrer lautete ›Das Ende der Welt‹, nicht wahr?«
    »Genau. ›Das Ende der Welt‹. Aber warum? Der Titel hat mich, ehrlich gesagt, immer gewundert.«
    »Darüber sprechen wir später«, sagte der Professor. »Jedenfalls wusste niemand von der erfolgreichen Visualisierung der sechsundzwanzig zerebralen Strukturen. Und ich habe es niemandem erzählt. Ich wollte diese Studien aus dem System heraushalten. Das vom System in Auftrag gegebene Projekt hatte ich erfolgreich abgeschlossen, und ich durfte die für mich notwendigen Experimente am Menschen durchführen. Darüber hinaus zum Profit anderer Studien zu betreiben hatte ich keine Lust. Ich wollte als Wissenschaftler wieder frei sein, mal in jenes Problem schauen, mal in dieses. Ich bin nicht der Typ, der sich dauernd nur einer Aufgabe widmet. Ich muss mehrere Sachen parallel verfolgen, das liegt mir. Hier die Kraniologie, dort die Akustik, und zusätzlich beispielsweise die Neurophysiologie. Doch als abhängig Beschäftigter geht das kaum. Deshalb teilte ich dem System mit, dass ich aufhören wolle – die wissenschaftlichen Arbeiten seien erledigt, mein Auftrag erfüllt, der Rest seien nur noch technische Fragen. Doch man ließ mich nicht gehen. Ich wusste zu viel. Man glaubte, wenn ich in dem damaligen Stadium zu den Semioten überliefe, könnten die Shuffling-Pläne wie eine Seifenblase zerplatzen. Für das System ist schon Feind, wer nicht Freund ist. Man bat mich, drei Monate zu warten. Ich könnte in dem Institut völlig frei forschen, brauchte keinerlei Arbeit für das System zu leisten, man würde mir eine Sonderprämie zahlen und so weiter. In drei Monaten wäre das hochgeheime Protektionsverfahren fertig, dann könnte ich gehen. Ich muss frei sein, an der Kette zu liegen behagt mir überhaupt nicht, aber die Bedingungen waren nicht schlecht. Deshalb blieb ich die drei Monate, tat mal dies, mal jenes und ließ es mir ansonsten gut gehen.
    Doch zu viel Muße bekommt dem Menschen nicht. Die viele freie Zeit brachte mich auf den Gedanken, den Probanden – euch also – einen weiteren, einen dritten zerebralen Schaltkreis zu legen. In diesen Schaltkreis implantierte ich den von mir edierten Psychokern.«
    »Wozu denn das nun wieder?«
    »Zum einen wollte ich sehen, welchen Effekt das auf die Probanden haben würde. Ich wollte wissen, wie ein von fremder Hand ediertes, strukturiertes Bewusstsein in den Probanden funktionieren würde. Ein beispielloser Fall in der gesamten Geschichte der Menschheit. Zum anderen – das war natürlich nur ein Nebeneffekt – wollte ich, wenn das System mich schon manipulierte, auch meinerseits

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